„Gotik“ in Paderborn

Als die Engel lächeln lernten

PADERBORN – Seit fast einem Jahrtausend prägt der Hohe Dom St. Maria, St. Liborius und St. Kilian, ein gotisches Prachtwerk, das Stadtbild. Vom romanischen Bau, der 1068 von Bischof Imad geweiht wurde, ist heute kaum mehr als die Krypta erhalten geblieben. Als Höhepunkt der Feier­lichkeiten zum 950. Jubiläum des alten Doms widmet sich eine Ausstellung dem Baustil des neuen Doms: der Gotik.

Das größte Ausstellungsobjekt ist dabei der Dom selbst. Um 1215 beschloss Bischof Bernhard III., den alten Paderborner Dom zu verwandeln. Höher, lichter und prächtiger sollte er werden. Unter weitgehender Beibehaltung des bisherigen Grundrisses ließen er und seine Nachfolger bis um das Jahr 1280 die alten Mauern nach und nach durch neue ersetzen. Anregungen lieferten die in Frankreich entwickelten modernen Architekturformen der Gotik. 

Neben dem mächtigen spätromanischen Westturm befindet sich der Haupteingang, das Paradiesportal. An ihm regt sich imponierend, aber noch etwas schwerfällig und steif früher gotischer Figurenschmuck. Links außen steht ein Bischof, rechts außen die heilige Märtyrerin Katharina von Alexandrien, die zum Zeichen des Sieges des christlichen Glaubens über das Heidentum ihren Peiniger, Kaiser Maxentius, mit Füßen tritt. 

Im dreifach zurückgestuften Gewände treten sechs überlebensgroße Apostel als gewichtige Persönlichkeiten in Erscheinung: Petrus und Paulus stehen hier der Himmelskönigin Maria mit dem Kind im Arm am nächsten. 

Sie ist vor dem Mittelpfeiler des Portals platziert. Im Bogenfeld über ihr schweben zwei Engel. Zu diesen um 1240 geschaffenen Steinfiguren gesellen sich zwei Holzplastiken, die in der gleichen Zeit geschaffen wurden. Sie stellen die heiligen Bischöfe Liborius und Kilian dar, die gemeinsam mit Maria die Patrone des Doms sind. 

Schrittweise Entfaltung

Wer vom Paradiesportal den Blick zu den vier Maßwerkfenstern des Langhauses wendet, entdeckt die schrittweise Entfaltung der Gotik. Denn von West nach Ost nimmt das Mauerwerk zugunsten der immer größer werdenden Fensterflächen ab. Zu voller Pracht kommt die Gotik am Ostquerhaus. Auf dem Giebel stehen Heiligenfiguren mit Christus an der Spitze. In hoher Nische flankieren zwei Bischöfe die Madonna. Und auf Kopfhöhe des Betrachters befinden sich zwei figurenreiche Reliefs mit den klugen und den törichten Jungfrauen sowie Szenen aus dem Leben Jesu.

Christoph Stiegemann, Direktor des Erzbischöflichen Diözesanmuseums, bezeichnet den Paderborner Dom als herausragendes Bauwerk der „westfälischen Ausprägung“ der Gotik. „Bei den Rezeptionsvorgängen in den westlichen Gebieten des Reiches wurde nicht kopiert, sondern gewisse Formmotive aus dem französisch-gotischen Gliederbau herausgelöst, um sie der heimischen Bautradition anzupassen“, erklärt er.

Die Formvermittlung lief über das neue Medium der Architekturzeichnung, das gegen 1200 auf den Kirchenbaustellen Nordfrankreichs aufkam. Kopien von Architekturplänen und Entwürfe von Dekorationsformen, die an andere Baustellen weitergereicht wurden, revolutionierten das gesamte mittelalterliche Bauwesen. Die mit Zirkel und Li­neal konstruierte Gotik kam so in alle Teile Europas. 

Diese Ausbreitung thematisiert die Ausstellung im neben dem Dom gelegenen Diö­zesanmuseum. Zu den 170 Ausstellungsstücken gehören dabei Objekte aus Paderborn, etwa die originalen hölzernen Bischofsfiguren vom Paradiesportal und Exponate von 80 internatio­nalen Leihgebern. Die sensationellste Leihgabe ist fast unsichtbar: Es handelt sich um einen gegen 1230 konstruierten Fassaden­entwurf. Berühmt als  „Reimser Palimpsest“ zählt er zu den sechs ältesten erhaltenen Bauplänen und Entwürfen von Architekturelementen.

Als „Palimpsest“ wird Pergament bezeichnet, von dem zwecks Neugebrauch die alte Tinte abgeschabt wurde. Vom Fassadenentwurf sind daher nur noch die tintenlosen Konturen erhalten. Er bezieht sich auf die 1211 begonnene Neu­errichtung der für viele nachfolgende Kirchenbauten vorbildlichen Reimser Kathedrale. Von ihr stammt die ausgestellte Steinskulptur Gottvaters (um 1240/50). Dieser sitzt auf seinem Thron, den Kopf geneigt, als schaue er aus dem Himmel auf das Weltgeschehen hinab.

Emotionen in Stein

Während die Gesichtszüge des Reimser Gottvaters würdevolle Ruhe ausstrahlen, spiegeln sich im Antlitz anderer Skulpturen der Kathedrale Gefühle. Und gerade ­diese Emotionalisierung der Figuren machte Schule. Das veranschaulicht der vermutlich um 1245 für die ehemalige Benediktinerabtei St. Maximin in Trier angefertigte Kopf eines Jünglings oder Engels, der mit leicht nach oben gezogenen Mundwinkeln ein stilles schmal­lippiges Lächeln aufgesetzt hat. 

Eine Teufelsfratze stellt hingegen mit entblößtem Oberkiefer grölendes Gelächter zur Schau. Sie stammt vom fragmentarisch erhaltenen Westlettner des Mainzer Doms, den um 1239 die Werkstatt des Naumburger Meisters anfertigte. Ebenso fasziniert der „menschliche“ Schlussstein des Rippengewölbes der Westlettnerhalle durch seinen vieldeutigen Gesichtsausdruck, der etwas wehleidig, aber auch ehrfurchtsvoll und visionär wirkt. Das von ihm erhaltene Fragment ist als „Kopf mit der Binde“ bekannt.  

Zierelemente wie Lanzettformen, das „Maßwerk“, das aus sich überschneidenden Kreissegmenten besteht, die „Fiale“ genannten Spitztürmchen, die als „Wimperg“ bezeichneten Ziergiebel oder die „Baldachin“ genannten Überdachungen von Skulpturen begegnen uns sowohl in der gotischen Großarchitektur als auch verkleinert in vielen anderen Bereichen der Kunst. 

Neben diesen architektonischen Besonderheiten präsentiert die Schau außerdem noch andere kostbare Beispiele: Glasmalerei, Buchdeckel, Illustrationen und glanzvolle Goldschmiedearbeiten wie die wahrscheinlich älteste Hostienmonstranz des deutschsprachigen Raums. 

Der sechsseitige Fuß dieses um 1320 geschaffenen Prachtwerks aus dem Fritzlarer Domschatz weist eine lateinische Inschrift auf: „Lamm Gottes, das du trägst die Sünden der Welt, erbarme dich unser.“ Das Schaugehäuse zur Aufnahme der geweihten Hostie besteht aus Berg­kristall. Über dem gekuppelten Deckel erhebt sich ein Kruzifix.

Der Beginn des Erzählens

Auf ein bemerkenswertes Phänomen macht die an der Konzeption der Ausstellung beteiligte Christiane Ruhrmann aufmerksam: „In der Gotik geht das Erzählen los.“ Das allerschönste Beispiel dafür ist eine um 1255 in Paris geschaffene Goldschmiede­arbeit: das Heiliggrabreliquiar der Kathedrale von Pamplona. 

An dem als Sarkophag gestalteten leeren Grab Christi haben sich die drei Frauen eingefunden. Ein lächelnder Engel verkündet ihnen die Auferstehung des Herrn und trägt ihnen auf, den Aposteln die frohe Botschaft mitzuteilen. Lässig sitzt er dabei auf dem Sarkophag und deutet mit dem Zeigefinger auf die unter dem durchsichtigen Deckel aufbewahrten Reliquien. 

Veit-Mario Thiede

Information

Die Ausstellung kann bis 13. Januar 2019 im Diözesanmuseum Paderborn besucht werden. Das Museum ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. 

Weitere Informationen unter Telefon 05 25 1/12 51 40 0 und im Internet unter www.dioezesanmuseum-paderborn.de. Der Eintritt beträgt neun Euro.

02.10.2018 - Ausstellungen , Deutschland , Kunst