Vor 25 Jahren entführt

Gott, eine unbegreifliche Instanz

Als die damals zehnjährige Natascha Kampusch am 2. März 1998, vor 25 Jahren, auf dem Schulweg entführt wurde, dachte niemand, dass sie 3096 Tage ihrer Freiheit beraubt sein würde. Erst 2006 gelang es ihr, ihrem Entführer zu entkommen. Ihre Gefangenschaft verarbeitete sie seither in mehreren Büchern. Im Exklusiv-Interview mit unserer Zeitung spricht Kampusch über ihr persönliches Gottesbild, persönliche Werte und inspirierende Lebensweisheiten.

Frau Kampusch, Sie waren 3096 Tage in der Gewalt Ihres Entführers. Was gab Ihnen die Kraft, diese lange Zeit der Ungewissheit durchzustehen?

Der Glaube an einen positiven Ausgang und die Möglichkeit, mein Leben wieder selbst positiv gestalten zu können.

Wie haben Sie dieses Trauma aufgearbeitet?

Ich hatte die Möglichkeit, mich durch Trauma-Arbeit im Rahmen einer Gesprächstherapie nach und nach mit dem Erlebten zu beschäftigen und es Schritt für Schritt emotional einzuordnen und zu verarbeiten. Ganz werde ich das Thema wohl nie aufarbeiten können, auch wenn ich es mir für mich wünschen würde.

Konnten Sie demzufolge Resilienz aufbauen, also Widerstandsfähigkeit?

Ja. Wobei ich auch denke, dass es zum Teil Veranlagung ist, wie stark Resilienz ausgeprägt ist, gelebt wird oder aufgrund von äußeren Umständen auch überhaupt nicht gelebt werden kann.

Kann man nach dem, was Sie erlebt haben, was Ihnen angetan wurde, noch an Gott glauben?

Es kommt darauf an, ob man seinen persönlichen Glauben je in Frage gestellt hat. Damit meine ich, ob man bereits davor in einem inneren Zwiespalt war.

Wer oder was ist Gott für Sie?

Gott ist für mich eine unbegreifliche Instanz, die in ihrem immanenten Wesen unergründlich ist.

Finden Sie Kraft im Gebet oder in der Meditation?

Ich meditiere sehr gerne und versuche, mir auch im stressigen Alltag Zeit dafür zu nehmen. Auch die kleinen Momente stellen für mich eine Art der Meditation dar. Über das Innehalten und die bewusste Achtsamkeit gewinnt man ganz viel Ruhe. In ihr liegt schließlich die Kraft begründet.

Sie sagten einmal, Sie seien ein Glücksmensch. Was heißt das?

Ich habe schon viele Situationen heil überstanden. Ich bin stets bemüht, zufrieden mit mir zu sein, versuche mit der Welt im Einklang und in Harmonie zu leben. Es gelingt mir zumeist doch ganz gut, selbst in besonders herausfordernden Zeiten. Ein gewisser Grund­optimismus begleitet mich schon mein gesamtes Leben.

Worin liegt Ihrer Meinung nach der Sinn des Lebens begründet?

Im Leben selbst – der Sinn ist die Essenz unser aller Existenz.

Was bedeuten für Sie angesichts Ihrer Erfahrungen Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben?

Freiheit ist ein Gefühl, das von vielen Faktoren abhängig ist. Selbstbestimmung wiederum ist von dem Freiheitsgefühl abhängig, das einem andere Menschen, die Gesellschaft, zugestehen.

Jahrelang in der Gewalt eines Fremden zu sein, dürfte für viele eine grauenvolle Vorstellung sein. Was macht Ihnen heute Angst?

Unwissenheit und Verantwortungslosigkeit, vor allem aber das Verhalten all jener, die aus diesen Motiven heraus handeln.

Viele Menschen meinen, die Welt der Gegenwart sei rücksichtsloser, kälter und wertloser geworden. Teilen Sie diese Ansicht?

Die Menschen waren einander nie zu 100 Prozent Freunde. Es handelt sich immer um eine Frage der Machtverteilung und des jeweiligen Standpunkts. Ob moralisch gehandelt wird, ist von den Wertmaßstäben der einzelnen Menschen abhängig.

Für welche Werte steht Natascha Kampusch?

Optimismus, innere und äußere Stärke.

Gibt es ein geistliches oder weltliches Zitat, das Ihnen als eine Art Lebensmotto dient?

Zwei Zitate finde ich sehr inspirierend: „Vergebung ändert nie deine Vergangenheit, aber bereichert deine Zukunft.“ Und: „Glaube bedeutet, das Licht mit dem Herzen zu sehen, wenn die Augen nur Dunkelheit erblicken können.“

Interview: Andreas Raffeiner