Nicht auf kirchliche Einrichtungen beschränkt

Vor 20 Jahren erste Missbrauchs-Vorwürfe:
Ideologie statt Ideale an der Odenwaldschule

Vor 20 Jahren erhoben ehemalige Schüler der Odenwaldschule im südhessischen Heppenheim erstmals Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs durch ihre Lehrer – als Haupttäter wurde der langjährige Schulleiter Gerold Becker entlarvt. Die Fälle zeigen: Missbrauch ist kein Problem nur von kirchlichen Einrichtungen – ganz im Gegenteil.

Die Scham war übermächtig. So sehr, dass ehemalige Schüler der Odenwaldschule jahrelang nicht berichten konnten, was man ihnen angetan hatte – bis die Verbrechen verjährt waren und die Täter ungeschoren davon kamen. Die Opfer waren Freiwild, auf Klassenfahrten, nach dem Sport und vor allem nachts, wenn Schulleiter Gerold Becker (1936 bis 2010) im Herder-Haus mit Bademantel bekleidet auftauchte, um sich an ihnen zu vergehen.

Als 1998 ehemalige Odenwaldschüler erstmals schwere Vorwürfe gegen ihre Peiniger erhoben, war die Schulleitung noch eifrig bemüht, die Anschuldigungen unter der Decke zu halten. Niemand wollte glauben, was nicht sein konnte, ja nicht sein durfte. Bis der Skandal zwölf Jahre später eine breite Öffentlichkeit erreichte und der Odenwaldschule moralisch, historisch und ökonomisch das Genick brach.

Das Ende der Musteranstalt

2015 musste die einstige Musteranstalt der Reformpädagogik Insolvenz anmelden. Das idyllisch in einem Tal gelegene Gelände ging an einen privaten Investor, der dort, nach Presseberichten, Ferienhäuser und Sportanlagen errichten will.

Wer heute von sexuellem Missbrauch spricht, muss nicht zuerst an Kloster Ettal, das Bistum Münster und das Berliner Canisius-Kolleg denken. Er denkt eben an die Odenwaldschule, wo das „Leben und Lernen in Gemeinschaft“ zur ideologischen Phrase degeneriert war und wo im libertären Milieu der 1970er Jahre auf christliche, gar katholische Werte gern lächelnd-abfällig herabgeblickt wurde.

„Die Geschichte der Odenwaldschule zeigt, dass sexueller Missbrauch kein spezifisch kirchliches oder gar katholisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, das in allen sozialen Bereichen vorkommt“, sagt die Potsdamer Historikerin Jenny Krämer. Fakt ist: Mit Kirche, Glaube und Gott hatte Schulleiter Gerold Becker trotz eines abgeschlossenen Studiums in evangelischer Theologie wenig zu tun. Zeitlebens war Becker mit Hartmut von Hentig, Altphilologe und selbsternannter Doyen der Reformpädagogik, verbandelt. Die beiden galten als Paar.

Jungen vor der Pubertät gehörten zu Beckers bevorzugten Opfern. Mit ihnen ging der Schulleiter duschen und ließ sich von ihnen oral befriedigen, berichten Zeitzeugen, darunter der Sportwissenschaftler Andreas Huckele, der über den Skandal an der Odenwaldschule publiziert hat. „Mit einsetzender Pubertät verloren Becker und seine Mittäter das Interesse an ihren Opfern und suchten sich neue“, weiß ein anderer Betroffener über die teils lagerähnlichen Zustände hinter den Schulmauern zu berichten.

Die Odenwaldschule war 1910 von Paul Geheeb (1870 bis 1961), einem gut vernetzten Lehrer und Erzieher, als reformpädagogische Lehranstalt in freier Trägerschaft gegründet worden und Anziehungspunkt für Kinder reicher und prominenter Familien, darunter den von Weizsäckers, den Unselds und den Manns. Für Furore sorgte Geheeb seinerzeit mit „Lichtbädern“ auf den umliegenden Wiesen, an denen Schüler und Lehrer beiderlei Geschlechts unbekleidet teilnehmen mussten.

Schulprogramm: Nacktheit

„Nacktheit gehörte an reformpädagogischen Lehranstalten zum Schulprogramm wie heutzutage ein erweitertes Fremdsprachenangebot“, sagt der emeritierte Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers. Die Schüler lebten mit ihren Lehrern in sogenannten „Familien“. Die so entstandenen emotionalen Abhängigkeiten bereiteten den Boden für Missbrauch jeder Art. An der Odenwaldschule gehörte Missbrauch zum „Kulturprogramm“, heißt es im Abschlussbericht einer unabhängigen Untersuchungskommission.

Gerold Becker hat es verstanden, die Odenwaldschule öffentlichkeitswirksam als Modellschule der Zukunft zu bewerben. Wiederholt war er zu Gast in Hörfunk- und Fernsehsendungen und publizierte emsig in pädagogischen Fachgazetten, ohne je ein Lehrerexamen abgelegt zu haben.

Nach seinem theologischen Studienabschluss hatte es den damals 26-Jährigen als Vikar nach Graz gezogen, bevor er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen wurde. Niemand fragte dort nach Beckers Vergangenheit – und schon gar nicht nach seiner sexuellen Disposition.

Was kaum jemand wahrhaben wollte: Die säkularen Ideen der Reformpädagogik, die im 18. Jahrhundert vor allem mit den Schriften Jean Jacques Rousseaus ihren Lauf genommen hatten, waren zugleich eine Spielwiese für Päderasten und Sadisten. „An der Odenwaldschule wurde gesoffen, gekifft und es gab amouröse Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern“, erinnert sich eine Schweizer Fernsehjournalistin, die einen Teil ihrer Schulzeit auf der Odenwaldschule verbracht hat.

In diesem Milieu, das allein vom reformpädagogischen Mythos lebte, begingen die nach Zeugenaussagen mafiös organisierten Kreise um Gerold Becker und den 2006 verstorbenen Musiklehrer Wolfgang Held ihre Verbrechen an minderjährigen Schutzbefohlenen – Verbrechen, die sprachlos machen und geeignet sind, das Bildungs- und Erziehungssystem der Reformpädagogik nachhaltig zu erschüttern.
Benedikt Vallendar

Literaturempfehlung

Pädagogik, Elite,
Missbrauch
Die „Karriere“ des Gerold Becker
Jürgen Oelkers
ISBN 978-3-7799-3345-8
58 Euro

30.04.2018 - Historisches