Lateranverträge

Im Vatikan ging das Fenster zur Welt auf

Mit einer Fläche von 44 Hektar ist er nur unmerklich größer als die Münchner Theresienwiese, wo das Oktoberfest stattfindet, und damit der kleinste Staat der Welt. Und der einzige, in dem Latein als Amtssprache gilt. Noch dazu ist der Zwergstaat mitten in einem anderen Land, genauer gesagt in einer Stadt gelegen: Vor 90 Jahren wurde der Vatikan von Italien als souveräner Staat anerkannt. Mehr ist vom Kirchenstaat, der einst große Teile Italiens umfasste, nicht übriggeblieben.

September 1870: Der italienische Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi steht mit seinen Truppen vor den Toren Roms. Bislang konnte der Kirchenstaat die Stadt verteidigen – dank der militärischen Hilfe Frankreichs. Doch wegen des Deutsch-Französischen Kriegs ist der Papst nun schutzlos. Garibaldi erobert Rom. Wenige Tage später wird der Kirchenstaat dem vereinigten Königreich Italien einverleibt – das Ende der weltlichen Herrschaft des Papsttums. 

„Gefangener im Vatikan“

Papst Pius IX. (1846 bis 1878) lehnte alle Garantie- und Ausgleichsangebote Italiens ab und bannte die Urheber und Akteure der Eroberung. Unterstützung erhielt der „Gefangene im Vatikan“, wie Pius IX. sich selber nannte, vor allem von den treuen Katholiken nördlich der Alpen. Fast 60 Jahre sollte es dauern, bis die Rolle des Papstes und der Status des Vatikans rechtlich geklärt wurden. 

Mit den Lateranverträgen vom 11. Februar 1929 wurde der Papst von Italien juristisch als Staatsoberhaupt anerkannt. Außerdem garantierte das Abkommen dem Vatikan politische Unabhängigkeit und staatliche Souveränität. Im Gegenzug akzeptierte die Kirche Rom als Hauptstadt Italiens. Während die Verträge außerhalb Italiens als Staatsgründungsakt betrachtet werden, gelten sie für viele Italiener bis heute als „Schmach“ oder „Unterwerfung“ gegenüber dem Papsttum.

Geschlossen wurden die Lateranverträge zwischen Italien, in Person von Benito Mussolini, und dem Heiligen Stuhl, vertreten von Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri. Seinen Namen verdankt das Abkommen dem Ort der Unterzeichnung: dem Lateranpalast in Rom. Die Verträge schafften es sogar in die italienische Staatsverfassung – was unter Juristen in Italien bis heute für hitzige Debatten sorgt: Weshalb soll in einer Staatskonstitution auch das Verhältnis mit einem konkret genannten Kleinstaat festgelegt werden?

Die Angst, die viele Italiener umtrieb – und teils noch umtreibt –, ist die vor einer Einmischung der Kirche in den politischen Alltag des Landes. Die Trennung zwischen Staat und Kirche hatte auf der italienischen Halbinsel seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verschiedene Phasen durchlebt. Mal waren die „Papst-Anhänger“ im Aufwind, dann kamen strikte „Antiklerikale“ an die Macht. Solange der Heilige Stuhl keine juristisch anerkannte Person war, schwelte der Konflikt weiter. 

Diesen zu lösen war das Anliegen von Papst Pius XI. (1922 bis 1939). Achille Ratti, wie Pius XI. mit bürgerlichem Namen hieß, bestieg während seiner Zeit als Erzbischof von Mailand unter anderem das Matterhorn. Ein ebenso schwieriges Unterfangen in seinem Pontifikat war die Suche nach einer diplomatischen Lösung mit der italienischen Regierung. 

Die Lateranverträge waren „eine komplexe und schwierige Opera­tion auf beiden Seiten“, sagte Fausto Bertinotti, der ehemalige Präsident der italienischen Abgeordnetenkammer und langjährige Vorsitzende der neo-kommunistischen Partei PRC, zum 80. Jahrestag der Unterzeichnung. Politiker der Linksparteien hätten immer sehr kritisch auf das Abkommen geschaut. „Das lag in der Tatsache begründet, dass unter den Verträgen die Unterschrift von Mussolini stand, was Antifaschisten niemals akzeptieren können“, sagte Bertinotti. 

Papst Pius XI. soll dagegen über Mussolini gesagt haben: „Die Vorsehung hat uns ein Treffen mit diesem Mann ermöglicht.“ Bertinotti räumte ein, dass die Verträge „wertvoll“ waren, weil sie zur Beendigung „der Streitfrage um Rom“ führten. Es sei nicht selbstverständlich gewesen, dass dies gerade einer nationalistisch gesinnten Regierung gelang. 

Staatschefs unter sich

Damit bezog sich der Politiker auf die strittige Frage, welchen Platz die Ewige Stadt einnehmen sollte. Seit 90 Jahren gilt: Rom ist sowohl die Hauptstadt Italiens als auch Mittelpunkt der katholischen Kirche. Rom ist die einzige Stadt auf der Welt, wo sich zwei Staatsoberhäupter von Fenster zu Fenster zuwinken können.

Die Lateranverträge als „Pakt mit dem Teufel“ zu betrachten, nur weil sie mit dem faschistischen „Duce“ getätigt wurden, ist falsch. Die Vorgeschichte der Vereinbarung zwischen Italien und dem Papsttum begann schon zehn Jahre vor der Unterzeichnung – und somit vor dem Faschismus. Im Rahmen des Friedensvertrags von Versailles zum Ende des Ersten Weltkriegs gab es eine erste Abmachung zwischen dem Präsidenten des Ministerrats des Königreichs Italien, Vittorio Emanuele Orlando, und dem Papst-Gesandten Erzbischof Bonaventura Cerretti. Man einigte sich darauf, die „Römische Frage“ anzugehen.

Auslöser für das Pariser Treffen war ein Beschluss der Kardinäle der „Päpstlichen Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten“ vom März 1917. Die Kardinäle berieten, wie die vatikanische „Enklave“ als „staatliches Gebilde“ anerkannt werden könne. Das kleine Gebiet war die einzige Zone Roms, die dem Papst 1870 überlassen worden war. Die Kardinäle hielten fest: Der Papst braucht einen eigenen Staat.

Konkret wurden die Verhandlungen aber erst unter dem neuen Ministerpräsidenten Benito Mussolini. Dieser hatte ähnliche Absichten wie die Kardinäle und übermittelte seine Pläne 1926 über Kardinal Gasparri an Papst Pius XI. In den Lateranverträgen wurden die vier von Mussolini angegebenen Punkte auch tatsächlich eingefügt – und zwar fast wortwörtlich. 

Der italienische Ministerpräsident erklärte sich bereit, das Eigentum des Heiligen Stuhls an den Apostolischen Palästen anzuerkennen, mit allem, was darin enthalten ist, wie den Museen und Bibliotheken. Außerdem war er damit einverstanden, den vatikanischen Palästen ein zu bestimmendes Gebiet hinzuzufügen – er benutzte das Wort „Abhängigkeiten“ – sowie das vatikanische Territorium als unabhängigen Staat anzuerkennen. Der letzte Punkt, den Mussolini nannte, war die Sicherstellung, dass der Vatikan als Staat auch von anderen Nationen anerkannt würde.

Etwas mehr als fünf Monate später begannen die direkten und offenen Verhandlungen der Verträge. Es sollte allerdings noch bis zum 11. Februar 1929 dauern, bis der Heilige Stuhl und Italien eine Einigung erzielt hatten und Gasparri und Mussolini die Papiere unterzeichneten. Der Papst, der bislang einen Finanzausgleich für den Verlust des Kirchenstaates abgelehnt hatte, nahm einen Betrag von 1,75 Mil­liarden Lire an. Sie bilden bis heute die Grundlage für den „Besitz“ des Vatikan, aus dem die Ausgaben der Kurie bestritten werden.

Hymne, Post und Militär

Die Römische Frage war gelöst, die Päpste öffneten wieder die Fenster zur Welt. Der kleine Vati­kanstaat, eine Wahlmonarchie, durfte eine eigene Post, einen eigenen Bahnhof und eine eigene Münze unterhalten. Bis heute gibt es eine eigene Zeitung (Osservatore Romano), eine Schutztruppe (Schweizergarde), eine Flagge (gelb-weiß) und sogar eine eigene Hymne („Marche Pontificale“ von Charles Gounod). Italien verpflichtete sich, dem Vatikan Wasser und Strom zur Verfügung zu stellen. Der Vatikan durfte diplomatische Beziehungen mit ausländischen Staaten aufnehmen.

Von der Versöhnung zwischen Italien und der Kirche zeugt noch heute die „Via della Conciliazione“ (Straße der Versöhnung). Die Prachtstraße, die von der Engelsburg zum Petersplatz führt, geht zurück auf Pläne Mussolinis. Der „Duce“ wünschte sich „eine der größten Kirche der Christenheit würdige“ Zufahrt.

Mario Galgano/red

11.02.2019 - Ausland , Historisches , Papst