Antonio Rouco Varela, Kardinal und einst mächtigster Kirchenmann Spaniens, feiert am 20. August den 85. Geburtstag. Den Leserinnen und Lesern der Katholischen SonntagsZeitung ist er kein Unbekannter: Vor 15 Jahren, kurz vor seinem 70. Geburtstag, zelebrierte er in Maria Vesperbild den Gottesdienst am Hochfest Mariä Aufnahme in den Himmel. Anlass seines Besuchs war auch der 250. Weihetag der dortigen Kirche, die gegenwärtig renoviert wird. In die Mariengrotte und zur Messe mit dem Madrider Kardinal strömten damals, lange vor Corona, 18 000 Menschen. Der Katholischen SonntagsZeitung gab Rouco Varela an jenem Tag ein exklusives Interview, das wir hier dokumentieren:
Eminenz, Papst Benedikt XVI. hat im Juni Spanien besucht, er war beim 5. Weltfamilientreffen in Valencia. Welche Auswirkungen dieses Besuchs haben Sie in Ihrem Heimatland wahrgenommen?
Für Spanien hatte dieser Besuch eine große Bedeutung, besonders vor dem gegenwärtigen zeitgeschichtlichen Hintergrund. Für die spanischen Katholiken war es in diesen schwierigen Zeiten ganz wichtig, vom höchsten Hirten der Kirche Mut zugesprochen zu bekommen. Bedeutsam ist auch der Anlass des Besuchs, das Weltfamilientreffen. Ehe und Familie sind ein Thema, das schon Johannes Paul II. sehr am Herzen lag. Und tatsächlich kam mehr als eine Million Besucher zu der Messe mit dem Heiligen Vater, und viele Millionen Menschen haben die Feierlichkeiten über die Medien in der ganzen Welt mitverfolgt. Auffallend war, welche großen Opfer die kinderreichen Familien brachten, um nach Valencia kommen zu können, viele übernachteten zum Beispiel unter freiem Himmel.
Welchen Weg nimmt die gesellschaftliche Entwicklung in Spanien? Welche Hoffnungen haben Sie für Ihr Land, welche Probleme sehen Sie?
Die spanische Gesellschaft befindet sich an einem Kreuzweg. Einerseits ist der Einfluss eines militanten Laizismus sehr groß geworden, er beeinflusst tiefgehend Politik und Alltagsleben. Das ist eine große Herausforderung. Wir haben in den 80er Jahren nach dem Tod von Franco eine große geschichtliche Wende vollbracht, in der die Versöhnung und der gemeinsame Aufbau der neuen Kultur und des neuen Spanien eine große Rolle spielten. Diese Zeitenwende wird durch die jüngste Entwicklung in Frage gestellt. Andererseits gibt es einen neuen Aufbruch. Neue geistliche Bewegungen innerhalb der Kirche bemühen sich, dem zunehmenden Laizismus entgegenzutreten. Sie sprechen besonders die junge Generation an und fordern sie auf, das Evangelium anzunehmen und eine Aufgabe in der Kirche zu übernehmen, die vom christlichen Menschenbild inspiriert ist. Ich glaube, ein immer größerer Teil der Jugend findet seine Heimat in der Kirche. Fast alle neuen Bewegungen der spanischen Kirche gehen von der Jugend aus. Weltberühmte spanische Wallfahrtsorte haben Hochkonjunktur, an erster Stelle Santiago de Compostela.
Empfinden Sie das als Widerspruch zu den gesellschaftlichen Entwicklungen in Spanien – und in anderen europäischen Ländern –, wo sich große Teile der Bevölkerung der Kirche gegenüber ja sehr distanziert verhalten?
Ich empfinde das als paradox. Auch die Volksfrömmigkeit in Spanien erlebt eine Hochkonjunktur. Am Karfreitag gibt es in Madrid eine große Prozession, an der jedes Jahr mehr als eine Million Menschen teilnimmt. Ganz zu schweigen davon, was in anderen Gegenden Spaniens in der Karwoche los ist, in Andalusien zum Beispiel. Diese neue Volksfrömmigkeit hat ganz Spanien erfasst, wobei die Laien und vor allem die jungen Leute eine entscheidende Rolle spielen. In diesem Zusammenhang kann man vielleicht Santiago de Compostela als europäisches Phänomen verstehen. Auch viele deutsche Gläubige pilgern nach Santiago. Vielleicht ist das eine tiefe Sehnsucht der europäischen Seele nach ihren Wurzeln, weil sie im tiefsten Sinn des Wortes verwaist ist und die großen Leitbilder braucht, die aus der Glaubensgeschichte kommen.