Mehr als 200 000 Menschen sind nach dem Einmarsch der türkischen Armee im kurdischen Norden Syriens auf der Flucht, darunter 70 000 Kinder. Nach Ansicht von Hilfswerken droht ein „Ethnozid“, die Vernichtung der kulturellen und religiösen Identität von Kurden, Christen und Jesiden.
Die Massenflucht aus den umkämpften Gebieten ist laut dem Nahostreferenten der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, auch der großen Angst vor dschihadistischen Milizionären geschuldet. „Es handelt sich um von der Türkei trainierte radikale Islamisten, die schlimmsten Elemente der syrischen Gesellschaft“, sagt Sido.
Er selbst wisse von mindestens acht Menschen, die in den ersten Tagen der türkischen Offensive auf offener Straße hingerichtet wurden – darunter die junge kurdische Politikerin Hevrin Khalaf. Sido stammt aus dem nordsyrischen Afrin und hat zahlreiche Kontakte in der Region.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan benutze den Islam als Waffe. Mit seiner Offensive, habe er verkündet, gehe er gegen „die Ungläubigen“ vor. „Seine Kämpfer skandieren Gesänge wie ‚Chaibar, Chaibar‘, welcher den Angriff des Propheten Mohammed auf eine jüdische Siedlung glorifiziert“, kritisiert Sido. Die Kurden werden als „Agenten des Zionismus und der Amerikaner“ beschimpft.
Der Experte erinnert an den Einmarsch der türkischen Armee im nordsyrischen Afrin im Januar 2018, das damals von Kurden kontrolliert wurde. „Dort gilt jetzt faktisch das islamische Recht, die Scharia. Kurden, die eine weitere Islamisierung der Region ablehnen, Aleviten, Jesiden, zum Christentum konvertierte Muslime – alle sind fort. Auf der Straße ist keine Frau ohne Kopftuch mehr zu sehen.“
Sido betont: „Es ist ein Ethnozid, eine Vernichtung der sprachlichen, religiösen und kulturellen Identität der Bewohner.“ Angesichts seiner Aktivitäten zeigt er sich mit Blick auf die islamistischen Milizen überzeugt: „Wenn ich denen in die Hände falle, kennen sie keine Gnade.“
Vernichtung des Volkes
Er kritisiert, dass die Bundesregierung sich nicht stärker zum Schutz der Menschen in Nordsyrien einschalte. Sie lasse sie im Stich. Zur Begründung werde stets auf die Nähe zur verbotenen kurdischen Organisation PKK verwiesen. Aber: „Man kann die Vernichtung eines Volkes nicht mit der Gewalt einer Gruppe rechtfertigen.“
Jacques Behnan Hindo, der emeritierte syrisch-katholische Erzbischof von Hassaké-Nisibi, sagt im Gespräch mit „Kirche in Not“: „Es war klar, dass den Kurden niemand helfen würde. Jetzt werden sie alles verlieren, wie es bereits in Afrin geschehen ist.“ Verlierer des türkischen Einmarschs werden nach seiner Einschätzung aber nicht nur Kurden sein, sondern auch Christen und andere Minderheiten.