Küsse drücken Liebe, Freundschaft und Zuneigung aus. Tausende Küsse verteilt der Mensch im Laufe seines Lebens, die meisten auf Wangen und Mund. Auf das durchschnittliche Menschenleben hochgerechnet kommen einige Wochen der „Knutscherei“ zusammen, haben Wissenschaftler ermittelt. Das war nicht immer so, zeigt ein Blick in die Geschichte.
„Gib mir 1000 Küsse, darauf 100, dann 1000 weitere, ein zweites 100, dann in einem fort 1000 weitere und darauf 100“, schrieb der antike römische Dichter Catull einst an seine Geliebte. Mit seinem Gedicht, einem Feuerwerk antiker Sinnesfreude, setzte er dem Kuss, der neben Händedruck und Umarmung beliebtesten Form der Liebesbezeugung, eines der ersten kulturellen Denkmäler.
„Der Kuss ist genau betrachtet ein metaphorischer Knoten, der zwei Körper und zwei Seelen über die Lippen verbindet“, sagt Marcel Danesi, Professor an der Universität Toronto. Der italienisch-kanadische Sprachwissenschaftler ist einer von vielen, die sich weltweit der Erforschung des Kusses verschrieben haben. Philematologie heißt ihr Fachgebiet, das die sozialen, physiologischen und kulturellen Aspekte des Küssens untersucht.
Als „das Aufdrücken der Lippen auf irgend einen Gegenstand als Zeichen der Freundschaft, Achtung und Liebe“, definiert Meyers Conversations-Lexikon den Kuss Ende des 19. Jahrhunderts. Für Wikipedia, das Nachschlagewerk der Internet-Ära, ist der Kuss ganz nüchtern „ein oraler Körperkontakt mit einer Person oder einem Gegenstand“, der je nach Intensität bis zu 34 Gesichtsmuskeln bewege sowie Nerven und Stoffwechsel anrege.
Die unterschiedlichsten Formen des Kusses definierte der österreichische Schriftsteller Franz Grillparzer (1791 bis 1872): „Auf die Hände küsst die Achtung, Freundschaft auf die offene Stirn, auf die Wange Wohlgefallen, sel’ge Liebe auf den Mund, aufs geschlossene Aug die Sehnsucht, in die hohle Hand Verlangen, Arm und Nacken die Begierde, überall sonst hin Raserei.“ Moderator Robert Lemke (1913 bis 1989) urteilte frech: „Ein Kuss ist eine Anfrage im ersten Stock, ob das Parterre frei ist.“
Die küssende Berührung der Lippen oder Wangen war den Bewohnern Afrikas, Amerikas, Ozeaniens und Australiens jahrhundertelang ebenso unbekannt wie vielen Asiaten noch heute. Hindus etwa ist der Lippenkuss zumindest in der Öffentlichkeit streng untersagt. In China, Japan, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Malaysia oder Indonesien gehört das Küssen in den Intimbereich. Hier landet, wer sich öffentlich küsst, unter Umständen im Gefängnis.
Sonntags Kussverbot
In manchem US-Bundesstaat ist die Kusszeit reglementiert: in Iowa auf maximal fünf Minuten, in Maryland gar nur auf Sekunden. In Connecticut und Michigan herrscht sonntags ein generelles Kussverbot. In Wisconsin sind Küsse in Eisenbahnzügen verboten, in Florida Küsse auf die weibliche Brust. Filme mit küssenden Paaren stehen noch immer auf dem Index einiger Staaten.
In der Bibel sind Küsse selten erwähnt. Der erste findet sich im Alten Testament zwischen zwei Männern: zwischen Isaak und seinem Sohn Jakob (Gen 27,26–27). Der zweite biblische Kuss, als sich Josef über seinen toten Vater Jakob wirft (Gen 50,1), markiert die Liebe der Kinder zu ihren Eltern und den Abschied von einem Toten – ein Brauch, der im frühen Christentum noch verbreitet war, als man glaubte, so die Seele des Verstorbenen aufnehmen zu können. 578 stellte die Synode von Auxerre dies unter Strafe.
Auch familiäre Wiedersehensfreude – etwa bei den Treffen zwischen Moses und seinem älteren Bruder Aaron (Ex 4,27) oder mit Schwiegervater Jitro (Ex 18,7) – zeigt sich in der Bibel im Kuss. Innigste Freundschaft markieren die Küsse zwischen dem Hirtenjungen David und Königssohn Jonathan
(1 Sam 20,41–42).
Im Neuen Testament erzählt Evangelist Lukas von einer Frau, die Jesus weinend die Füße küsst (Lk 7,38) und von der mit einem Kuss besiegelten Aussöhnung zwischen einem Vater und seinem Sohn (Lk 15,20). Am bekanntesten aber wurde der Kuss, mit dem der Apostel Judas Jesus verriet und so den Weg für Christi Kreuzestod freimachte. Seitdem steht der Judaskuss für geheuchelte Freundschaft.
In der Kirche war es lange Zeit üblich, den bischöflichen Ring zu küssen, wenn man seinem Oberhirten begegnete. Orale Verehrung fanden auch Reliquien, die es in fast jedem Gotteshaus gab. Hand- und Fußküsse bestimmten lange das Zeremoniell bei Hofe. Und Papst Johannes Paul II. küsste bei seinen Reisen in jedem Land, das er betrat, erst einmal den Boden.
Einige Forscher glauben, Küssen sei ein rein kultureller Ausdruck, der sich in höheren Gesellschaftsschichten etabliert habe und zur Markierung des Status diente. Die Art des Kusses – sei es auf Fuß, Knie, Hand, Rücken, Wange oder Mund – habe schon immer soziale Standesunterschiede verraten und Hierarchien verdeutlicht. In Persien
und Ägypten etwa würdigte man Höhergestellte, indem man ihre Füße küsste.
Der Handkuss, noch heute bei gesellschaftlichen Ereignissen wie dem Wiener Opernball öffentlich praktiziert, entsprang im Mittelalter dem Küssen des Siegelrings der Adligen und Geistlichen. Im 17. und 18. Jahrhundert galt es schließlich als besondere Gunst, die Hand des Herrschers gereicht zu bekommen, welche selbstverständlich nicht wie heute geschüttelt, sondern geküsst wurde.
Nur der Mundkuss, wie er unter Priestern und frühen Christen üblich war, zeugte von einer Gleichrangigkeit der Partner. So war der „osculum pacis“, der Friedenskuss, zentrales Ritual frühchristlicher Agapefeiern – getreu den Worten des Apostels Paulus, der in seinen Briefen an die Thessalonicher oder die Korinther den Kuss zum Zeichen der Einheit immer wieder angemahnt hatte. In den orthodoxen Ostkirchen ist dieser Friedenskuss bis heute üblich. In der katholischen Kirche wurde er im Laufe der Zeit auf Kleriker beschränkt.