In Buntglasfenstern verewigt

Martin und der Teufel

Die Episode der Mantelteilung mit einem Bettler vor den Stadttoren von Amiens kennt jeder. Doch um Leben und Wirken des heiligen Martin von Tours ranken sich vielerlei mehr Legendenstoffe und Mirakel – selbst über seinen Tod hinaus. In der Frühzeit durch seinen Erstbiografen Sulpicius Severus nachgezeichnet, fanden Geschichten und Mirakel im Mittelalter ihre Fortschreibung.  

Meist standen Gleichnisse dahinter, die das Gottvertrauen stärken, Unrecht und Zweifel anprangern, die Menschen zur Standhaftigkeit animieren sollten: Sankt Martin als Vorbild, als Ideal christlicher Vollkommenheit. Doch nicht nur schriftlich festgehaltene Überlieferungen hatten Gewicht. Der Martinsstoff inspirierte über Generatio­nen und Ländergrenzen hinweg Maler und Bildhauer: der Heilige in Öl auf Leinwand, als Relief und Skulptur verewigt in Holz und Stein, auf Buntglasfenstern in Kirchen. 

Dahingehend eine Fundgrube ist das zentralfranzösische Tours, wo der Heilige die Bischofsweihe empfing und das Amt bis zu seinem Lebensende bekleidete. Interessanter als die Neue Basilika, die in der Krypta den Sarkophag mit Martinsreliquien birgt, ist die Kathedrale, die sich mit einer 70 Meter hohen Doppelturmfassade aufwirft und den Namen des ersten Bischofs von Tours trägt, Saint Gatien. 

Im Innern des gotischen Prachtbaus führt der Weg in den Chorumgang. Dort steht Martins Mantelteilung mit dem Bettler am Beginn einer Abfolge aus Buntglasfenstern, die um das Jahr 1300 entstanden. Sie thematisieren Lebenssplitter, Legenden und Wunder des Heiligen. Übersichtstafeln mit Nummernzuordnungen helfen Besuchern, die Szenen zu erschließen. Zeit für nähere Betrachtungen. 

Christus mit dem Mantel

Ein markantes Motiv ist die Christusvision. In der Nacht nach der Mantelteilung erscheint dem Soldaten Martin, so verbürgt Sulpicius Severus, im Schlaf Christus. Dieser hat nun jene Hälfte von Martins Mantel übergestreift, die dieser dem Armen geschenkt hat, und spricht laut und vernehmlich zu der Engelsschar, die ihn umgibt: „Martinus, obgleich er noch Taufbewerber ist, hat mich mit diesem Umhang bedeckt.“ Damit bestätigt Christus die ewige Gültigkeit der Worte, die er einst gesprochen: „Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. (...) Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem dieser Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt, 25,36 und 40).

Bei der späteren Verbreitung des Christenglaubens muss Martin Rückschläge wegstecken. Oft sieht er sich mit der Landbevölkerung konfrontiert, die alten Glaubens­traditionen wie der Allbeseeltheit der Natur nachhängt. 

Einen Baum im Fallen fangen

Als Martin einmal eine als heilig verehrte Kiefer fällen lassen will, bringt er die Leute gegen sich auf. „Wenn du so sehr deinem Gott vertraust, den du vorgibst zu verehren, so wollen wir den Baum zum Sturz bringen. Doch du musst ihn im Fallen auffangen. Wenn dein Gott, wie du behauptest, mit dir ist, wird er dein Leben verschonen“, versucht ihn der Wortführer aus der Reserve zu locken. 

Furchtlos und in den Schöpfer vertrauend, willigt Martin ein und wird von Bauern an einer Stelle angebunden, an der die Föhre gewiss niederkrachen und den Heiligen unter sich begraben wird. Martins Gefolge, das das Ganze aus der Entfernung verfolgt, fürchtet den Tod seines Herrn. Als die Kiefer anfängt, sich gegen ihn zu neigen, schlägt Martin mit der Hand ein Kreuzzeichen, worauf der Baum wie von einem Wirbelwind nach hinten gerissen wird und auf der anderen Seite niederstürzt. Da kommen die Menschen zu Martin, um sich taufen zu lassen. Sowohl Baum- als auch Taufszene sind in den Fenstern in ausdrucksstarken Blau-, Rot- und Gelbtönen festgehalten.

Martins göttliche Gaben bestehen ebenso in der Krankenheilung wie in der Auferweckung von Toten. Ein Buntglasfenster zeigt, wie er einen Taufkandidaten wiedererweckt, der sich ihm im Kloster Ligugé angeschlossen hat. 

Der Kaiser und der Engel

Ebenso eindeutig identifizierbar ist in zwei Szenen die Episode von Martin, dem Kaiser und dem Engel. Zum Hintergrund: In Martins Anfangszeit als Bischof von Tours fällt eine Reise nach Trier zu Kaiser Valentinian I. Der Herrscher will den Heiligen allerdings nicht empfangen, weil er eine nicht näher bestimmte Bitte, vielleicht ein Gnadengesuch oder ein anderes Friedenswerk, fürchtet, das er nicht erfüllen kann. So lässt er die Tore seiner Residenz verschließen. 

Nachdem Martin zweimal vergeblich um eine Audienz gebeten hat, greift er zum letzten Mittel. Er legt ein Büßergewand an, bestreut sich mit Asche, betet und fastet. Nach sieben Tagen erscheint ihm ein Engel und gebietet ihm, zurück zum Palast zu gehen, wo sich die Tore von selber auftun würden. 

Martin beim Kaiser

Martin schreitet ungehindert in den Saal zum Kaiser, der sich – überrascht und verärgert zugleich – nicht erheben will, um den Heiligen zu empfangen. Da fängt der Thron Feuer, und der Monarch versteht das Zeichen des Himmels. Wie verwandelt schließt er Martin in die Arme und sichert ihm vorab, ohne das Anliegen zu kennen, sein uneingeschränktes Einverständnis zu. 

Martin und der Satan – auch das ist ein immer wiederkehrendes Motiv im Legendengeflecht. Drei Buntglasfenster füllen sich in der Kathedrale diabolisch mit Leben. Einmal versucht der Höllenfürst, den Heiligen aus den Händen eines Engels in die Tiefe der Versuchung des Bösen zu reißen – natürlich vergebens. Ein anderes Mal nimmt Martin eine Teufelsaustreibung vor, bei der ein rotes, geflügeltes Figürchen die Flucht aus einem menschlichen Rachen ergreift. 

Die dritte Szene geht buchstäblich unter die Gürtellinie, denn der Leibhaftige entweicht durch den „Hinterausgang“ eines besessenen Mannes. Diese Szene findet sich schon bei Sulpicius Severus skizziert, der bei der Begebenheit „schmutzige Spuren“ ins Feld führte.

Blühende Büsche

Das chronologische Ende der Buntglasfensterfolgen in der Kathedrale stecken Martins Tod bei seiner Seelsorgereise nach Candes im Jahre 397 ab, die Überführung im Boot über die Loire nach Tours und die Beisetzung unter großer Anteilnahme der Bevölkerung. Hier lassen sich weitere Bezüge ergänzen. Bei der Überführung des Leichnams kommt es zum Blütenwunder an der Loire. Überall dort, wo das Boot mit dem aufgebahrten Heiligen vorbeifährt, beginnen die Büsche und Bäume an den Ufern zu blühen. 

In Tours bedeuten Martins Trauerfeierlichkeiten für einen Blinden und einen Lahmen den ungewollten Abschied von ihrer Pein. Ihre Bedürftigkeit war bislang die beste Verdienstquelle, die sie weiter sprudeln lassen wollten. Wo immer der Blinde den Lahmen hingetragen und der Lahme dem Blinden den Weg gewiesen hat, stießen sie auf barmherzige Menschen und erbettelten Geld. Nun fürchten sie, die Prozession mit dem Leichnam des Wundertäters Martin könne bei ihnen vorbeiziehen und ihr Schicksal ändern. Als sie sich verstecken wollen, stoßen sie genau auf den Leichenzug mit dem Heiligen. Im selben Augenblick werden die beiden von ihren Leiden befreit.

Andreas Drouve