„Rabbiner für Menschenrechte“

Nestbeschmutzer mit Kippa?

Sie nennen sich „Rabbis for Human Rights“ (Rab­biner für Menschenrechte) und verstehen sich als Israels „Stimme des Gewissens“. Mit ihrem Einsatz für Frieden und Menschenrechte in Nahost eckt die 1988 gegründete Vereinigung gläubiger Juden bei vielen ihrer Mitbürger an.

Die Organisa­tion repräsentiert über 100 israelische Rabbiner unterschiedlicher Strömungen des Judentums. Sie leiten ihre Autorität aus dem traditionellen jüdischen Verantwortungsgefühl für Sicherheit und Wohlergehen eines jeden Fremden, Anderslebenden und Schwachen, des Konvertiten, der Witwe und des Waisenkinds ab. 

Wie dies in der Praxis aussehen kann, zeigen Projekte wie die Ölbaum-Kampagne. Israelische Freiwillige unterstützen palästinensische Bauern bei der Olivenernte, um sie vor den Übergriffen gewaltbereiter Siedler zu schützen. Sie wollen auf diese Weise dazu beitragen, dass die Bauern jede einzelne ihrer Oliven ernten dürfen – wie es ihnen durch Israels Obersten Gerichtshof eigentlich zugesagt wurde.  

Ungewohntes Vorbild

Mit ihrer Selbstverpflichtung zur Gewaltlosigkeit geben diese israelischen Rabbiner gerade palästinensischen Jugendlichen ein besonderes und für viele ungewohntes Vorbild. Juden als Freunde und Helfer – das ist ein Bild, das unter zu vielen Palästinensern viel zu selten herrscht. Der Ölbaum erhält durch die Kampagne eine ganz neue konkrete Bedeutung als Symbol des Friedens.

Der reformorientierte Rabbiner Arik Ascherman war viele Jahre lang Direktor und Leitfigur der Organisation. Sein Motto hatte ihm seine Mutter bei seinem ersten Synagogenbesuch als Lektion mitgegeben: „Du kannst so viel beten, wie du willst. Wenn du rauskommst und jemandem auf die Nase haust, war das nichts wert.“ Eine kindgerechte Erklärung, die für Ascherman bis heute ihren Wert behalten hat.

Die jüdischen Gebote und Verbote regeln das Leben der Menschen, wie sie miteinander umgehen sollen, von der Wiege bis zur Bahre. Und weil im jüdischen Glauben alle Menschen Abbilder Gottes sind, dürfe man niemanden verletzen, da man sonst Gott verletze. Von diesem religiösen Grundsatz leitet sich die Motivation der Friedens-Rabbiner ab. Sie wollen sich vorbehaltlos für die Menschen einsetzen – ganz egal, ob es sich um Juden oder Nichtjuden handelt, um Palästinenser oder Israelis. 

In Israel, mahnen sie, würden immer wieder „moralische rote Linien“ überschritten. Dazu gehören nach Ansicht der „Rabbiner für Menschenrechte“ die weitverbreitete Armut oder der schwierige Status von Beduinen in der Negev-Wüste. Obwohl die Minderheit Bürger Israels sind, werden ihre Dörfer zerstört – und das mit demokratisch legitimierten Entscheiden.

Auch die militärische Kontrolle über die Palästinenser im Westjordanland gehört zu jenen „roten Li­nien“. Wenn derjenige, der die Macht hat, auch die Regeln bestimmt, kann das nur schiefgehen, ist die Überzeugung der „Rabbiner für Menschenrechte“.

Wegen ihrer Kritik an der israelischen Politik wird den Aktivisten oft vorgeworfen, sie seien Nestbeschmutzer und wollten das eigene Land schlecht machen. Diesen Vorwurf lassen sie nicht gelten. „Ich liebe mein Land“, betont Arik Ascherman. „In vielen Ländern sieht es in Sachen Menschenrechte viel schlimmer aus als in Israel. Die moralischen Ansprüche, die wir an uns selber stellen, sind aber auch viel höher als in anderen Ländern."

Rechte eingeklagt

Mehrfach schon sind die Friedens-Rabbiner vor Gericht gezogen, um die Rechte von Minderheiten einzuklagen. Oder sie organisieren Sommerferienlager für benachteiligte Kinder. Auch ziviler Ungehorsam gehört zu ihrem Engagement: zum Beispiel vor Bulldozern zu stehen, um die Zerstörung von Häusern zu verhindern. 

Durch die Kippa, die sie auf dem Kopf tragen, sind sie als religiöse Juden erkennbar. Deshalb werden sie nicht selten von Palästinensern für radikale Siedler gehalten – schließlich sind jene die einzigen religiösen Juden, die sie kennen. Solche Vorurteile will Yehiel Grenimann, Aschermans Nachfolger als Direktor der „Friedens-Rabbiner“, durchbrechen und zeigen, dass nicht die Religion zwischen Palästinensern und Israelis stehe. Frieden ist möglich, ist er überzeugt: „Auch wenn es manchmal hoffnungslos erscheint. Aber es gibt keine andere Wahl. Zu viel steht auf dem Spiel.“ 

Einer der Schwerpunkte der Friedensarbeit ist Ost-Jerusalem. Bis die israelische Armee es 1967 eroberte, stand das Gebiet unter jordanischer Verwaltung. Dort lebende Palästinenser sind heute von Zwangsräumungen bedroht: Ihre Häuser sollen abgerissen werden. 

Silwan östlich der Jerusalemer Altstadt ist ein Beispiel dafür. Die kleinen, quadratischen Häuser bedecken die Tal­senke, während andere sich sanft an einen Hang schmiegen. Aus der Ruine eines Wohnhauses ragen Betonfundamente und Stahlträger. Auf dem Boden liegt eine zerrissene Matratze. Die Stadtverwaltung hat das Haus abreißen lassen.

Rabbi Grenimann erinnert sich: „Ich habe selbst die Stadtverwaltung angerufen, aber auch das hat sie nicht abgehalten. Nun stand ich da zusammen mit einigen Journalisten und machte Fotos. Auf den Dächern drüben lagen Polizisten und Soldaten. Unten waren Polizisten auf Pferden. Dann brach die Gewalt los:  Steine flogen, Tränengas, Schüsse.  Es war ein schlimmer Tag.“

22 Häuser will die Stadtverwaltung abreißen lassen. An ihrer Stelle soll ein archäologischer Park für Touristen entstehen. Das Problem für die Bewohner: Kaum einer von ihnen hat eine Besitzurkunde für das Land, auf dem sein Haus steht, oder gar eine Baugenehmigung. Manche haben jahrelang versucht, eine Baulizenz zu bekommen. Doch die Stadt fand immer neue Ausflüchte.  Entsprechend schwierig ist der Dia­log. Die anti-israelische Stimmung heizt sich auf.  

Auch in anderen Stadtteilen Jerusalems geht unter den Bewohnern die Angst um, dass die Stadtverwaltung ihnen die Häuser nehmen könnte. Auch deshalb, weil derzeit vermehrt jüdische Siedler in ehemals arabische Stadtteile ziehen. Die „Rabbiner für Menschenrechte“ versuchen, zusammen mit den arabischen Bewohnern dagegen vorzugehen. Regelmäßig demonstrieren sie oder schalten Anwälte und Journalisten ein, um die Zerstörung der Häuser zu verhindern.

„Längst nicht alle Israelis unterstützen diese Politik“, sagt Rabbi Grenimann. „Doch es sind nur wenige,  die an den Demonstratio­nen teilnehmen.“ Man müsse die Menschen wachrütteln. „Denn der Weg, auf dem unser Staat sich jetzt befindet, führt in eine Tragödie. Ich frage mich, was unsere jungen Leute in zehn Jahren tun werden. Solch eine Atmosphäre macht Menschen schnell radikal.“

Der Kampf für die Rechte der Minderheiten, den die „Rabbis for Human Rights“ kämpfen, erscheint manchmal aussichtslos. Doch ans Aufgeben denken sie nicht. Sie tun es nicht, weil sie von einem Wort des Propheten Jesaja beseelt sind: „Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein und der Ertrag der Gerechtigkeit sind Ruhe und Sicherheit für immer.“ (Jes 32,17). Yehiel Grenimann drückt es so aus: „Das ist für uns keine bloße Theologie, sondern Aufruf zum Engagement.“

Karl-Heinz Fleckenstein

27.03.2019 - Ausland , Judentum , Nahost