Die Brasilianer sind eines der fußballbegeisterten Völker der Welt – und ihr Land eines der erfolgreichsten auf dem Platz. Bei der WM in Russland zählen die brasilianischen Ballkünstler wieder zu den großen Favoriten.
Die Fußballbegeisterung im bevölkerungsreichsten katholischen Land der Erde beginnt schon bei der Sprache. Der Ausruf „Show de Bola!“ (etwa: Was für eine Fußball-Show!) ist in Brasilien überall zu hören, wo etwas als „super“ oder „wunderschön“ umschrieben werden soll. Er ist fast so populär wie das „Se Deus quiser“, das „So Gott will“, das die Brasilianer der Formulierung jedes kühnen Wunsches anfügen.
Diesmal ist die Stimmung zur WM im Land des fünfmaligen Weltmeisters aber weniger euphorisch als bei früheren Weltmeisterschaften, stellen die älteren Semester fest: Das Land steckt in der Krise. In Umfragen gaben nicht mal 60 Prozent der Brasilianer an, sich für die Spiele im fernen Russland zu interessieren – für das Land ein sehr geringer Wert.
Der betagte Senhor Everaldo in der Warteschlange vor der Kasse im Supermarkt erzählt: „Eigentlich wollte ich in Anbetracht unserer Situation überhaupt kein Spiel mehr schauen. Aber mit dem Beginn der Copa hat es mich wieder gepackt und ich verfolge beinahe jedes Match!“ Die „Copa“ – so nennen sie hier die Fußball-Weltmeisterschaft.
Im Supermarkt sind die riesigen Fernseh-Bildschirme strategisch geschickt platziert. Die Kassiererinnen können sie nicht sehen, dafür aber aber alle Kunden im Eingangsbereich – und die jungen Aushilfen, welche hier die Einkäufe eintüten. Sie können kaum ein Auge von den Bildschirmen mit dem Geschehen in Russland abwenden.
In Läden leere Regale
Kürzlich hatte ein landesweiter Streik der Lkw-Fahrer als Reaktion auf willkürliche Erhöhungen des Dieselpreises durch die Regierung das Riesenland buchstäblich lahmgelegt. Die Brasilianer standen vor leeren Regalen in den Läden – und die Händler auf den Märkten wollten plötzlich das Dreifache der bisherigen Preise für die wenigen noch vorhandenen Waren.
Es gab kaum noch Gas zum Kochen. Selbst Trinkwasser wurde knapp. Es war der Moment, in dem den Menschen des Landes klar wurde, dass die „Copa 2018“ sie vielleicht für ein paar Augenblicke beglücken und aus ihrem Alltag reißen würde – aber aus ihrer wirtschaftlichen Not würde sie sie nicht befreien können.
Die nicht vom Volk gewählte Regierung unter Michel Temer kam voriges Jahr durch ein parlamentsinternes Strippenziehen der korrupten politischen Elite an die Macht. Sie hat gegenwärtig nichts mehr zu verlieren. Ihre Unterstützung im Volk liegt noch bei zwei oder drei Prozent. Im Oktober stehen Neuwahlen an. Also hoffen die Eliten, dass sich die Bürger durch die „Copa“ von der politischen und wirtschaftlichen Krise ablenken lassen.
Die Macht der „Droge“ Fußball: Brasiliens Eliten setzen sie schon lange ein. Erstmals war das vor 100 Jahren. Damals drohten die ersten Massenstreiks der jungen Republik. Also wurde dem Volk zur Ablenkung der Fußball zugänglich gemacht. Zuvor wurde dieser nur in feinen Sportklubs gespielt. Die breite Bevölkerung war ausgeschlossen.
Die ersten Lederbälle
Die Basis für die nationale Leidenschaft der Gegenwart wurde 1894 gelegt. Sechs Jahre nach Abschaffung der Sklaverei erreichte der aus England stammende Ballsport Brasilien. Charles William Miller, der Sohn eines eingewanderten Eisenbahningenieurs, der während seiner Studienzeit in England einige Jahre Mittelstürmer in Southampton gewesen war, brachte die zwei ersten Lederbälle mit nach São Paulo.
Das Spiel erwies sich als irgendwie magisch für die Menschen. Fußballspielen sei wie ein Tanz, sagt man in Brasilien. Die Lust an der Bewegung, dem Verbiegen, der Täuschung, der Drehung – sie wurde den Brasilianern quasi in die Wiege gelegt.