Venezuela: Hunger, Not und Korruption

„Regiert von Kriminellen“

CARACAS – Der venezolanische Bischof Víctor Hugo Basabe von San Felipe hat die sozialistische Regierung scharf angegriffen. Die Kirche ist die einzige verbliebene Opposition in dem Land. Kurz vor der Neuwahl des Präsidenten am 20. Mai herrschen Mangel, Not und Hunger.  

„Wir wählen nicht den Weg des Bösen, auf dem sich diejenigen verlaufen haben, die leugnen, dass es in Venezuela Hunger und Unterernährung gibt. Diejenigen, die denen die Türen zuschlagen, die einen humanitären Korridor für Lebensmittel und Medikamente  einrichten wollen; diejenigen, die bestreiten, dass Tausende Venezolaner im Müll nach Essen suchen – obwohl sie es mit eigenen Augen sehen.“ 

Unmissverständlich prangert Bischof Víctor Hugo Basabe von San Felipe das Versagen der venezolanischen Regierung um Präsident Nicolás Maduro an. Und das nicht im internen Kreis, sondern vor Zehntausenden. Für seine Abrechnung hat er das Marien-Fest der „Divina Pastora“ am 14. Januar gewählt. Und als Schauplatz den Wallfahrtsort mit dem riesigen Monument auf dem Berg der Millionen-Stadt Barquisimeto im gleichnamigen Nachbarbistum.

Die Lage des seit 1998 sozialistisch regierten Landes ist dramatisch. Insbesondere nach dem Tod des charismatischen Präsidenten Hugo Chávez 2013 und dem gleichzeitigen Verfall des Erdölpreises an den internationalen Börsen stieg die Zahl der Menschen, die Hunger leiden. Medikamente für die Mittel- und Unterschicht gibt es nicht mehr. 

Die galoppierende Inflation – Medien berichten von bis zu 13 000 Prozent im laufenden Jahr – vernichtet den ohnehin spärlichen Lohn. Gerade die jungen, gut ausgebildeten Menschen sehen für sich keine Zukunft mehr in dem Land, das über die größten Erdölreserven der Welt verfügt. Schätzungen zufolge haben bereits vier Millionen ihrer Heimat den Rücken gekehrt.

„Nicht ihr seid es, die gehen sollten“, rief Bischof Basabe der Jugend des Landes zu. „Wenn jemand aus Venezuela abhauen sollte, ist es derjenige, der für das Desaster verantwortlich ist, der dafür verantwortlich ist, dass Tausende Kinder unterernährt sind, der dafür verantwortlich ist, dass Tausende Venezolaner im Müll nach Überresten suchen, um ihren Hunger zu stillen, der für die Korruption verantwortlich ist, welche die Kranken zum Tod verurteilt, weil in den Krankenhäusern Ärzte und Medikamente fehlen.“

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Präsident Maduro fühlte sich persönlich angegriffen. Es verlangte eine Anklage im Sinne des „Gesetzes gegen Anstiftung zu Hass und Gewalt“. Das stammt aus der Feder der verfassungsgebenden Versammlung. Die hatte wiederum Maduro 2017 wählen lassen, um das von der Opposition dominierte Parlament zu entmachten.

„Ich bin überzeugt, keine Straftat begangen zu haben“, erklärt Bischof Basabe im Gespräch mit unserer Zeitung. „Das Gesetz gegen den Hass existiert in meinen Augen gar nicht, weil es nicht vom Parlament verabschiedet worden ist, sondern von der verfassungsgebenden Versammlung. Und die hat keinerlei Kompetenz, Gesetze in diesem Land zu erlassen“, sagt er. Bis heute ist er unbehelligt geblieben und kann sich frei bewegen. 

Diese Freiheit nutzt er, um über die wahren Verhältnisse im Land aufzuklären. Viele gingen nach wie vor davon aus, dass Venezuela von einer linken Regierung mit einer marxistisch-leninistischen Ausrichtung regiert werde. „Die Wahrheit ist, dass wir in Venezuela von einer kriminellen Gruppe regiert werden, die in Terrorismus, Drogen- und Waffenhandel verstrickt ist“, erklärt der Bischof von San Felipe. 

Von der internationalen Gemeinschaft erhoffe er sich eine Korrektur der falschen Annahmen und eine größere Aufmerksamkeit. Die Verbrechen sollten vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verfolgt werden. 

Kirche einzige Opposition

Über diese deutlichen politischen Worte zeigt sich der Venezuela-Referent des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, Reiner Wilhelm, wenig verwundert: „Die Kirche ist die einzige Opposition im Land und die einzige Institution, die im Volk überhaupt noch Vertrauen genießt.“ Heute stehe die Kirche geschlossen an der Seite der Armen. Das sei jedoch keineswegs immer so gewesen in Venezuela.

Unumwunden gibt der neue Vorsitzende der Venezolanischen Bischofskonferenz zu: Die Krise hat die Kirche verändert. „Wir mussten das venezolanische Volk kennenlernen“, sagt Bischof José Luis Azuaje Ayala. „Die Krise hat in der Kirche das Miteinander wachsen lassen – und unseren Dienst am Volk.“

Yotis Amanda Hernández ist ein Gesicht dieses neuen Miteinanders. In einem Armenviertel der Stadt Puer­to Cabello organisiert sie mit sieben weiteren ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen jeden Abend einen Essenstreff auf der Empore der Kirche. 45 Kinder sind es heute. Pünktlich um 16.45 Uhr haben sie sich um den langen Tisch versammelt. Ihre Familien sind vollkommen verarmt. 

In der wichtigsten Hafenstadt des Landes, nur wenige Kilometer vor der Industriemetropole Valencia entfernt, legte einst ein Frachter nach dem anderen an. Heute kommen höchsten noch zwei, drei Schiffe pro Woche, um Waren zu löschen oder aufzunehmen. 87 Prozent der venezolanischen Haushalte leben gemessen an ihrem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Das ist das erschreckende Ergebnis einer Studie angesehener Universitäten der Hauptstadt. Nicht einmal die Regierung hat dem widersprochen. 

Als im Herbst des vergangenen Jahres heftige Regenfälle den kleinen Fluss zum reißenden Strom anschwellenden ließen, der ärmliche Hütten mit sich riss, Wege und Ackerland wegspülte, stand für die 31-Jährige Yotis Amanda Hernández fest, dass sie selbst anpacken muss. Aus dem auf eine Woche angelegten Essenstreff für Kinder ist inzwischen eine Dauereinrichtung geworden. Lebensmittel werden in der Gemeinde gesammelt. Pfarrer Tulio Mendéz ruft in den Gottesdiensten zur Sammlung auf. Reihum kocht eine der acht Mitarbeiterinnen. Zwei weitere helfen beim Austeilen des Essens und der Betreuung der Kinder. 

„Die Leute helfen sich gegenseitig. Das ist die einzige positive Folge der Krise“, sagt Yotis Amanda Hernández. Doch jetzt muss sie sich beeilen. Es ist 17.30 Uhr. Sie bricht auf zum Centro Clinico San José, wo sie um 19 Uhr die Nachtschicht als Krankenschwester antritt. Tagsüber, bevor sie wieder Essen für die Kinder zubereitet, studiert sie Medizin.

Von der Regierung wird die Hilfe der Kirche geduldet, aber keineswegs gern gesehen. Maduro will sich gern als einziger Wohltäter der Armen und Benachteiligten darstellen. Doch die Verteilung von Lebensmitteln durch die „Comités Locales de Abastecimiento y Producción“ – lokale Komitees zur Lebensmittelversorgung und Produktion – funktio­niert immer schlechter. 

Kaffee gibt es nicht mehr

Reis, Linsen, Bohnen und Öl werden aus Mexiko importiert. Kaffee oder Zucker gibt es schon längst nicht mehr. Angesichts der verbreiteten Korruption kommen die Lebensmittellieferungen immer seltener an. „Es werden wenigstens teilweise die Grundbedürfnisse befriedigt“, erklärt Padre Tulio Mendéz. „Bleiben die Lieferungen aus oder es fehlt acht Stunden lang der Strom, gehen die Leute dagegen auf die Straße, protestieren, errichten Straßensperren.“ 

In Kürze sorge die Regionalregierung dann dafür, dass die Lichter wieder angehen oder Lebensmittel geliefert werden. „Kommt das Bisschen bei den Menschen an, werden alle wieder lethargisch“, fasst Padre Tulio die Situation frustriert zusammen. 

Für Bischof Basabe hat die Regierung eine Mentalität der Abhängigkeit geschaffen. Die Menschen seien immer weniger produktiv, fühlten sich unwichtig für die Zukunft des Landes. „Venezuela braucht nicht nur einen Regierungswechsel, sondern auch einen Mentalitätswandel der gesamten Bevölkerung“, ist der Bischof überzeugt. 

Um das Land zu verändern, müssten alle ihre Talente, Kenntnisse und Kräfte einbringen.  Die Kirche müsse die Verantwortung übernehmen und einen neuen Gesellschaftsvertrag vorschlagen. „Verkünden wir unsere Botschaft eines Lebensstils, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewirkt.“

Stephan Neumann

13.05.2018 - Ausland , Lateinamerika , Politik