Christen im Nahen Osten

Sie sind wie Freiwild

Offiziell herrscht in den Ländern des Nahen Ostens Religionsfreiheit. Offiziell darf dort jeder für seinen Glauben werben. Doch wie so oft in muslimisch dominierten Ländern klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Beispiel: die Türkei. Immer öfter werden hier Christen zur Zielscheibe muslimischer Scharfmacher – mit offizieller Billigung durch Regierungsstellen.

„Der erneute Einmarsch der Türkei und mit ihr verbundener islamistischer Milizen in Syrien ist mit ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen, insbesondere der Vertreibung von Christen und Jesiden im türkischen Nachbarland verbunden“, sagt die Potsdamer Historikerin und katholische Publizistin Jenny Krämer. Doch damit nicht genug: Fast unbemerkt säubert die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan auch die Türkei selbst von Christen und „Ungläubigen“. 

Immer größeres Ausmaß

Ausweisungen und Einreiseverbote für engagierte Christen nehmen ein immer größeres Ausmaß an, berichtet jüngst die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main. Im laufenden Jahr seien bereits 25 Personen ausgewiesen worden, die inoffiziell als Bedrohung für die nationale Sicherheit dargestellt werden, heißt es in einem IGFM-Kommuniqué. 

„Hinzu kommen Ehepartner und weitere Familienangehörige, so dass allein in diesem Jahr bereits 60 bis 70 Personen Opfer dieser Politik geworden sind“, sagt Historikerin Krämer. Die Opfer seien Ausländer, die sich zum Teil bereits vor Jahrzehnten in der Türkei niedergelassen haben und die in ihren türkischen Gemeinden als besonders aktiv gelten. 

„Sie stammen aus Deutschland, Großbritannien, Finnland, USA, Neuseeland, Kanada und Austra­lien. Die meisten Betroffenen erfuhren von ihrer Ausweisung bei der Ausreise, manche auch erst bei der Wiedereinreise“, kritisiert Krämer. Religionsfreiheit ist durch die türkische Rechtsordnung eigentlich garantiert, die Ausweisungen daher rechtswidrig, betont die Expertin.

Ausgewiesene gut integriert

„Die Behauptung, die Betroffenen seien eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit, ist nicht nachvollziehbar“, bestätigt Martin Lessenthin, IGFM-Vorstandssprecher und Sachverständiger der Bundesregierung in Menschenrechtsfragen. Die Ausgewiesenen seien in der Türkei gut integriert, heißt es. Viele lebten und arbeiteten im Großraum Istanbul, in Ankara oder Izmir. 

Die Betroffenen haben Familien und Beruf, Häuser und Kinder in Ausbildung und Studium. Sie haben sich nie etwas zu Schulden kommen lassen und sind teilweise sogar Arbeitgeber für Einheimische. Was die Sache noch verschärft: Die Ausgewiesenen erhalten gleichzeitig ein sofortiges Einreiseverbot. Zahlreiche Ausgewiesene haben dagegen geklagt. 

Die Regierung schweigt 

Die Ausweisungen began­nen im Juli 2017 und erreichten in diesem Jahr ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Betroffenen sind ausnahmslos protestantische Christen, die aktiv im Gemeindeleben stehen. Warum sie eine Bedrohung darstellen sollen und ihnen die Codes „N-82“ und „G-82“ zugeordnet werden, was einem Einreiseverbot gleichkommt – dazu schweigt die Regierung. 

Nach IGFM-Informationen werden Christen in der Türkei in vielfältiger Weise diskriminiert. „Dies gilt vor allem für syrisch-orthodoxe und armenische Christen. Die Regierung Erdoğan will eine religiöse Gleichschaltung unter der Kontrolle des Islam“, kritisiert Historikerin Krämer. „Einen gewissen Schutz genießen die wenigen Katholiken im Land, da sie durch den Vatikan einen völkerrechtlich anerkannten Staat im Rücken haben.“

Deutlich unter 200 000

Den stärksten Exodus von Christen in Nahost erlebt der Irak. Dort ist ihre Zahl in den vergangenen 20 Jahren um drei Viertel zurückgegangen. Anfang der 1990er Jahre lebten noch weit über eine Million Christen im Zwei­stromland. „Heute sind optimistische Stimmen der Meinung, dass es noch 250 000 sind,“ sagt Krämer. Sie ist pessimistischer: „Wahrscheinlich sind es deutlich unter 200 000.“

Dabei hatten Christen über Jahrhunderte hinweg ihren festen Platz in der Region. Seit dem Bürgerkrieg in Folge der US-Invasion von 2003 aber werden sie immer öfter als Eindringlinge empfunden. „Es werden immer wieder unsere Rechte geleugnet, hier zu leben. Man hält uns für Fremde oder Ungläubige,“ berichtet Schwester Nazik Khalid Matty vom Orden der Dominikanerinnen. „Sie denken, wir würden nur für eine kurze Zeit hier sein und das Land irgendwann verlassen. Doch es ist unsere Heimat.“ 

Dschihadisten besiegelten das Schicksal der "Nasrani", der Christen

Als die Dschihadisten kamen, wurde das Schicksal der irakischen Christen mit dem Schriftzeichen Nūn, dem arabischen N, besiegelt: Groß und nicht selten in scharlachroter Farbe malten es Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) an Wohnhäuser in der nordirakischen Stadt Mossul. Der Buchstabe kennzeichnet die so Markierten als „Nasrani“ – Nazarener. So nennen die IS-Dschihadisten Christen. 

Massenexodus in Mossul

Das Stigma auf Häusern in Mossul war eine Warnung: Verlasst die Stadt, konvertiert zum Islam oder zahlt uns Schutzsteuern. Wer sich nicht beugt, muss mit dem Tod rechnen. Die sunnitischen Extremisten hatten Mossul im Juni 2014 eingenommen. Noch bevor sie jedes Haus mit einem „N“ beschmiert hatten, setzte ein Massenexodus ein. Mindestens 300 000 Christen flohen nach UN-Angaben binnen eines Monats aus Mossul und der umliegenden Provinz Ninive in die kurdischen Gebiete des Nordiraks.

„Christen und Juden haben den Nahen Osten genauso geprägt wie heute die Muslime. Trotzdem werden sie von selbsternannten Gottes­kriegern und ihren geistigen Führern immer aggressiver als Agenten des Westens oder gar als Ungläubige denunziert“, kritisiert Historikerin Krämer. Ausgerechnet dort, wo die Weltreligion einst entstand, in der Unruheregion des Nahen Ostens, droht das Christentum den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Abraham: der berühmteste Migrant der Weltgeschichte

Hier liegen seine ältesten Wurzeln. Hier liegen die Landschaften, deren Bilder und Erzählungen die ältesten Geschichten der Bibel inspiriert haben. Von Ur in Chaldäa im heutigen Südirak machte sich Abraham, der wohl berühmteste Migrant der Weltgeschichte, auf ins Gelobte Land. Im palästinensischen Bethlehem wurde Jesus geboren. In Jerusalem ist er am Kreuz gestorben und nach dem Glauben von Milliarden Christen wieder auferstanden.

Und wäre nicht der in Tarsus geborene Jude Paulus bis nach Athen gezogen und hätte auf dem Territorium der heutigen Türkei und Griechenlands die ersten Gemeinden gegründet – die Jesus-Anhänger wären wohl als kleine jüdische Sekte eine Fußnote der Geschichte geblieben.

Schwer gebeutelt

Ähnlich schwer gebeutelt wie in der Türkei sind die Gläubigen in Syrien. Hier lebten vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Frühjahr 2011 knapp zwei Millionen Christen. Mittlerweile sind viele von ihnen nach Jordanien, in den Libanon oder nach Europa geflohen. 

„Ich würde sagen, dass maximal noch die Hälfte da ist,“ erklärt Uwe Gräbe, Verbindungsreferent Nahost der Organisation Evangelische Mission in Solidarität. „Aber das ist eine geschätzte Zahl. Das wird man erst wissen, wenn der Krieg zu Ende ist.“ Ignatius Ephräm II. Karim, der syrisch-orthodoxe Patriarch von Antiochien, geht schon heute davon aus, dass nach dem Ende der Kämpfe nur wenige Christen in ihre Heimat zurückkehren werden.

Benedikt Vallendar

29.10.2019 - Ausland , Christenverfolgung , Nahost