Toul: Kleines Städtchen – große Geschichte

Gotischer Glanz an der Mosel

Es ist die Nachmittagssonne, die Touls Kathedrale zum Glanzstück macht. Je tiefer die Sonne steht, desto kräftiger rückt die Westfassade ins Licht: eine über 60 Meter hohe steinerne Wand aus feinstem Maßwerk. Ein handwerkliches Meisterstück und eine Explosion der Formen, die als Flamboyant-Stil Eingang in die Kunstgeschichte gefunden hat. Über 100 Figuren haben sie einmal geprägt. Biblische Helden und Heilige, die im Zug der Französischen Revolution allerdings verschwinden mussten. Nur wenige haben im Museum Touls überlebt.

Von wo auch immer sich der Besucher dem kleinen Städtchen mit seiner großen Geschichte nähert – die mächtigen Türme der Kathe­drale kann er kaum übersehen. Vor allem von der Mosel nicht, die ein paar Meter flussaufwärts ihren westlichsten Punkt erreicht hat. Vor vielen Millionen Jahren zweigte der Fluss hier irgendwo Richtung Maas ab. Heute zwingen ihn die Festungsmauern um die Stadt weiter nach Norden Richtung Rhein.

Erster Bischof der Stadt: Heiliger Mansuetus 

Zu den ersten Siedlern der Re­gion gehörten die keltischen Leuker. Ihnen folgten im ersten Jahrhundert vor Christus die Römer, unter deren Herrschaft Toul schließlich christlich wurde. An den ersten Bischof der Stadt erinnert ein Hochgrab in der Kathedrale. Es zeigt einen kräftigen Mann mit Bischofsstab, den heiligen Mansuetus. Mansuy de Toul heißen ihn die Franzosen. Ein Wanderprediger sei er gewesen, der seine letzten Lebensjahre im vierten Jahrhundert an der Mosel verbracht haben soll, wo er einer kleinen christlichen Gemeinschaft vorstand. Das alles freilich ist historisch nicht verbürgt, stützt sich Mansuys Geschichte doch auf eine erst im zehnten Jahrhundert erschienene Biografie. 

Touls Bischof wird Papst

Greifbarer wird Touls Kirchengeschichte mit einem gebürtigen Kölner, Gerhard I. Er war ein Freund der Ottonen und wurde 963 Bischof von Toul. Schon zwei Jahre später begann er mit dem Bau der ersten großen Domkirche. Sie wurde dem heiligen Stephanus geweiht, dem damals in der Region populärsten Heiligen. Er war auch Namenspatron der Kathedrale von Metz, der nächsten Bischofsstadt mosel­abwärts. Noch stärker als Gerhard I. drückte Bischof Bruno von Egisheim-Dagsburg Toul seinen Stempel auf. Als Leo IX. (1049 bis 1054) schaffte er es sogar auf den Papstthron. 

Auf der Suche nach Reliquien, der im Mittelalter größten Touristenattraktion, war Leo IX. Anfang des neuen Jahrtausends in Trier vorstellig geworden, wo sich Reliquienschätze wie der Heilige Rock ballten. Angeblich bat er die Trierer, einen dort befindlichen Heiligen Nagel – einen der Nägel, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde – nach Toul mitnehmen zu dürfen. Triers Domkapitel lehnte ab. Wie durch ein Wunder, heißt es, sei plötzlich aber die Nagelspitze abgebrochen, um kurz danach in Toul wieder aufzutauchen. 

Beliebtes Pilgerziel

Zusammen mit den angeblich wiederentdeckten Reliquien des ersten Bischofs Mansuy wurde Touls Bischofskirche so schnell zu einem beliebten Pilgerziel. Das auch war mit der Anlass, das romanische Gotteshaus entsprechend um- und auszubauen. In den frühen 1220er Jahren begann man mit dem Neubau der Kathedrale. Als Erstes entstand der Chor mit seinen beiden Türmen, die Kapellen flankierten. 40 Jahre nach seiner Vollendung fügte man das riesige Querschiff hinzu und das letzte Joch des Langhauses, das die Stabilität der neuen Kathe­drale garantieren sollte. 

Ende des 13. Jahrhunderts hatte die Bischofskirche so ihr gotisches Gesicht gefunden, zu dem auch der sehenswerte Kreuzgang gehört. Mit seinen Wasserspeiern auf den Dächern, deren tierische Figuren die Domführer gern ausführlich erklären, zählt er zu den schönsten und größten Kathe­dralen Europas.

Schokoladenseite der Kathedrale

Im 14. Jahrhundert setzte man den Ausbau des Langhauses fort, das Seitenkapellen sichtlich verbreiterten. Der Krieg zwischen dem Herzog von Burgund und dem Herzog von Lothringen zwang allerdings zum Baustopp. Deshalb entstand die eindrucksvolle Westfassade, die Schokoladenseite der Kathedrale, erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts – nachdem Papst und Frankreichs König mit kräftigen Geldspritzen den Weiterbau möglich gemacht hatten.   

Im 17. und frühen 18. Jahrhundert wurde schließlich das Innere neu gestaltet. Mit Statuen und Gemälden wurde besonders die Apsis geschmückt, wo neben den Schutzheiligen der Kathedrale wie Johannes dem Täufer, Stefanus und Gerhard von Toul auch viele lokale Heilige ihren Platz fanden. Dazu kamen Tafelgemälde im Chor, die als Türen der zahlreichen Reliquienschränke dienten.

18. Jahrhundert: Langsamer Niedergang von Toul

Politisch allerdings begann in diesen Zeiten der langsame Niedergang Touls, das als freie Stadt im Heiligen Römischen Reich schließlich an Frankreich fiel. 1777 wurde die Diözese Toul, die drei Fünftel des Herzogtums Lothringen umfasste, zerstückelt und neben Toul die neuen Bistümer Nancy und Saint-Dié geschaffen. 1802 ging das Bistum Toul im Rahmen eines Konkordats ganz im Bistum Nancy auf. 

Am schlimmsten aber traf die Kirche 1794 eine städtische Verordnung, die auf Drängen aus Paris zustande kam. Demnach mussten aus ideologischen Gründen alle Statuen in den Nischen der einmaligen Westfassade verschwinden, ebenso der Lettner, das Chorgestühl und alle Skulpturen im Kreuzgang.  Tröstlich war nur, dass Toul 1824 wieder Bischofsstadt wurde, als man das neue Doppelbistum Nancy-Toul schuf. Kein Wunder, dass die Kirchenführer deshalb Besuchern heute wieder gern vorrechnen, dass die meisten Bischöfe des Bistums in Toul zu Hause waren, nicht in Nancy. 

Von Bomben zerstört

Voller Stolz zeigen sie zudem auf das Hochgrab Bischof Mansuys, der sich dort in einem sogenannten Super­humerale präsentiert, einem mittelalterlichen Papst- und Bischofskleid, wie es ähnlich auch die alttestamentlichen Hohen Priester zierte. Heute ist sein Tragen bei liturgischen Feiern neben dem Bischof von Toul nur noch seinem Amtskollegen in Eichstätt und den Erzbischöfen von Paderborn und Krakau erlaubt. Auch im Jubiläumsjahr könnte das extravagante Bischofskleid wieder in dem einen oder anderen Festgottesdienst zum Einsatz kommen.   

Keine guten Zeiten für die Kathedrale waren die beiden vergangenen Jahrhunderte. So zerstörten Bomben im deutsch-französischen Krieg 1870 die bunten Renaissance-Fenster im Chor. Im Zweiten Weltkrieg nahm die deutsche Artillerie die Kathedrale im Juni 1940 unter Beschuss. Eine ihrer Mörsergranaten setzte schließlich das Bauwerk in Brand, ruinierte Dach und große Teile der Inneneinrichtung samt der großen Orgel aus dem 18. Jahrhundert. Tagelang habe das Feuer im Gotteshaus gewütet, heißt es. 

Plane statt Dach

Für den gotischen Prachtbau war es das Aus. Nur notdürftig deckte man ihn schnell mit einer Plane zum Schutz gegen Unwetter ab. Die Kirche jedenfalls war nur noch ein Provisorium, das man Ende der 1970er Jahre aus Sicherheitsgründen endgültig schloss. Rund ein Jahrzehnt später startete die teure Generalsanierung, die eine Millionensumme verschlang. Erst zu Beginn der 2000er Jahre war die Restaurierung der extravaganten Westfassade abgeschlossen. Zuletzt erhielt der mehr als ein halbes Jahrhundert mit einem provisorischen Wellblech versehene Kreuzgang ein neues Dach. 

Zum Jubiläum strahlt die alte Kirche so wieder in neuem Glanz. Drei Jahrhunderte Gotik vereint sie in einer Formenvielfalt, die Kunsthistoriker ebenso staunen lässt wie Kirchgänger. Während die Westfassade mit ihren hohen Türmen reinster Flamboyant-Stil ist, stammen die unteren Partien der kleineren Osttürme noch aus der Romanik. Dazu kommen Reste eines Glasfensters aus dem 13. Jahrhundert in den östlichen Turmhallen und ein Fenster im Nordarm des Querhauses aus dem frühen 16. Jahrhundert. 

Alter Bischofsstuhl aus dem 13. Jahrhundert

Besonders gern zeigt man Besuchern auch wieder den alten Bischofsstuhl aus dem 13. Jahrhundert. Er erzählt von Zeiten, als das heute nur rund 15 000 Einwohner zählende Toul zu den Me­tropolen Europas zählte. Wo früher Touls Bischof in einem Palast neben der Kathedrale residierte, hat heute der Bürgermeister sein Quartier. Ein kunstsinniger Mann, dem das Jubiläumsjahr der Kathedrale eine Herzensangelegenheit ist. Er schlägt die Werbetrommel zur 800-Jahr-Feier sogar lauter als die Kirchenmänner.

Günter Schenk

Information

Bis zum Sommer 2022 feiert Toul das 800-jährige Bestehen der Kathedrale mit zahlreichen Veranstaltungen. Weitere Informationen auf Französisch unter www.toul.fr/cathedrale800ans.

01.10.2021 - Frankreich , Historisches , Kirchen