Kirchenkampf in Nigeria?

„Unser Volk atmet Religion“

Nigerias Regierung führt einen „Krieg gegen Kirchen“ – sagt zumindest die „Christian Association of Nigeria“ (CAN), die Dachorganisation christlicher Kirchen im Land. Grund für den Streit ist ein Gesetz, das der Regierung Kontrolle über die Führung religiöser Einrichtungen gibt. Theoretisch könnte die Kirchenleitung demnach mit Muslimen oder Vertretern anderer Religionen besetzt werden. 

Der „Companies and Allied Matters Act“ (etwa: Gesetz über Firmen und verwandte Angelegenheiten) erlaubt es der Regierung des muslimischen Präsidenten Muhammadu Buhari, den Vorstand von Organisationen durch einen Interims-Verwalter zu ersetzen, wenn dies im „öffentlichen Interesse“ sei. Das soll Missbrauch vorbeugen und Transparenz schaffen. Seit der Einführung im August sorgt das Gesetz in dem westafrikanischen Land aber vor allem für eines: Streit. 

CAN: Gesetz ist "inakzeptabel, gottlos und verwerflich"

Die Kritik kommt in erster Linie von Kirchen, die als Nichtregierungsorganisationen gelten und ebenfalls betroffen sind. „Inakzeptabel, gottlos und verwerflich“ sei das Gesetz, urteilt die CAN. Die Regierung in Abuja dagegen bestreitet, dass die neuen Regeln überhaupt auf Kirchen oder religiöse Einrichtungen abzielen. 

Der Ruf nach mehr Regulierung wurde in Nigeria in den vergangenen Jahren immer lauter. Auf dem religiösen Sektor macht dem mit mehr als 200 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Land Afrikas besonders ein Problem zu schaffen, das auch in anderen Teilen des Kontinents auftritt: Selbsterklärte Propheten und charismatische Pastoren häufen ein Vermögen an, indem sie Mitgliedern ihrer evangelikalen Sekten „Wunder“ versprechen. Während Gläubige nicht selten ihr Erspartes verlieren, leben die Pastoren in Villen und fliegen in Privatjets. 

„Es ist lachhaft“

Die Kirchen überzeugt dieses Argument nicht. So sagt der Erzbischof von Lagos, Alfred Adewale Martins, über das Gesetz: „Einen Verwaltungsrat durch einen von der Regierung bestimmten zu ersetzen, ist ein gravierender Eingriff in die Religionsfreiheit.“ Eugene Enahoro, Kolumnist der Zeitung „Daily Trust“, stört vor allem, dass ein staatlicher Eingriff durch „öffentliches Interesse“ begründet sein muss. „Es ist lachhaft“, korrupte oder inkompetente Regierungsvertreter darüber entscheiden zu lassen.

Dem nigerianischen Politologen und Kommentator Chidi Amuta zufolge habe sich Buharis Regierung durch den Eingriff in Kirchenangelegenheiten selbst geschadet. Denn: „Nigeria ist kein gewöhnlicher Ort, wenn es um Glaubensfragen geht. Unser Volk atmet und lebt Religion.“ Erst an zweiter Stelle seien Nigerianer Patrioten, zuvor jedoch Christen, Muslime oder Anhänger von Naturreligionen.  

Anstieg des islamischen Einflusses seit Ende der Militärdiktatur

Rund die Hälfte der Nigerianer sind Muslime. Christen und Anhänger indigener Religionen stellen die andere Hälfte. Etwa ein Viertel sind Katholiken. Der islamische Einfluss ist seit dem Ende der Militärdiktatur 1999 gestiegen. In Teilen des Landes  hat sich unter dem Einfluss radikal­islamischer Koranauslegung die Vielweiberei ausgebreitet. Religiö­sen Pogromen und Terrorattacken fielen Zehntausende zum Opfer.

Paralleles Justizsystem

Welche Rolle der islamistische Einfluss spielt, zeigte sich zuletzt wieder im Bundesstaat Kano im Norden: Hier wie in mehreren anderen Teilstaaten Nigerias herrscht ein paralleles Justizsystem, in dem neben weltlichen Richtern auch Scharia-Gerichte Urteile fällen. Ein solches verurteilte den 13-jährigen Omar Farouq zu zehn Jahren Gefängnis. Er soll sich „abfällig“ über Allah geäußert haben. 

Farouqs Verurteilung sorgte weltweit für Kritik. „Sie macht alle Prinzipien von Kinderrechten zunichte, zu denen sich Nigeria verpflichtet hat“, sagt Peter Hawkins vom Kinderhilfswerk Unicef. Symbolgewaltig appellierte eine Gruppe aus 121 Erwachsenen rund um den Erdball an Präsident Buhari, den Jungen zu begnadigen – oder andernfalls sie für jeweils einen Monat anstatt Farouq einzusperren. Unter den Unterzeichnern ist der Direktor der Auschwitz-Gedenkstätte in Polen, Piotr Cywiński.

Farouqs Fall macht den Kampf der Ideologien deutlich, der in Nigeria ausgefochten wird: Vertreter eines muslimischen Gottesstaats stehen gegen Anhänger einer Trennung von Religion und Politik. Angesichts der bohrenden Probleme des Landes stellt Erzbischof Martins den Zeitpunkt des neuen Religionsgesetzes in Frage: „Die Aktivitäten der Boko Haram und bewaffnetes Bandentum beunruhigen und zerstören ganze Gemeinden.“ 

Islamistische Sekte Boko Haram

Clara Okafor ist seit fünf Jahren beim Roten Kreuz. Als OP-Schwester arbeitet sie in der nigerianischen Stadt Maiduguri, der Hochburg der islamistischen Sekte Boko Haram. Als der Terror 2009 anfing, arbeitete sie als staatliche Pflegerin. „Wir mussten ansehen, wie Frauen und Kinder an Krankheiten starben, die an sich vermeidbar und heilbar gewesen wären.“ 

In den elf Jahren seither töteten die Gotteskrieger 35 000 Zivilisten. Erst kürzlich traf es mehr als 70 ältere Menschen in der Kleinstadt Gwoza, die von Boko-Haram-Kämpfern bei einem nächtlichen Überfall massakriert wurden. Die Gewalt treffe Christen wie Muslime, betonte der Apostolische Nuntius in Nigeria, Erzbischof Antonio Filipazzi. Die Radikalen hätten auch „viele Moscheen“ attackiert. 

Es fehlt an Schulen

Und die Regierung in Abuja? Ihre Armee scheint machtlos gegen die gut ausgerüsteten Islamisten. Im Norden fehlt es weiter an Schulen, Kliniken und Straßen. Das treibt die Radikalisierung voran. Statt durch Entwicklungsprojekte macht die Regierung durch Korruption auf sich aufmerksam. 

So sorgte ein Skandal in den Behörden für Schlagzeilen, bei dem knapp vier Millionen Euro veruntreut worden sein sollen. „Nigerias Wirtschaft und der Wohlstand seiner Bürger werden für die gierigen Interessen der Machthaber geopfert“, warnte Bischof Wilfred Chikpa. Für Zeitungskolumnist Enahoro ist klar: Nigeria hat größere Sorgen als die gesetzliche Regelung von Religion. Er schreibt: „Ungeachtet ihrer angeblich guten Absichten wäre der Nation mehr geholfen, wenn sich die Regierung auf Wohnungsbau, Gesundheit, Bildung, Sicherheit und Infrastruktur konzentrierte.“

Markus Schönherr

13.11.2020 - Afrika , Islam , Terror