Afrika bevölkerungsreichstes Land

Wahlchaos und Krise in Nigeria

„Der Pate“ wird Nigerias neuer Präsident. Bei den Präsidentschaftswahlen in Afrikas bevölkerungsreichstem Land konnte sich der Kandidat der Regierungspartei, Bola Tinubu, gegen mehr als ein Dutzend Konkurrenten durchsetzen. Der Muslim gilt als politisches Urgestein. Von 1999 bis 2007 war er Gouverneur in der Wirtschaftsmetropole Lagos. Die Opposition will seinen für Mai geplanten Amtsantritt verhindern. 

Viele der 93 Millionen registrierten Wähler sahen in dem Urnengang vor zwei Wochen eine Schicksalswahl für das westafrikanische Land – allen voran Erstwähler, die mit einer neuen Rekordzahl vertreten waren. 70 Prozent der Nigerianer sind jünger als 30 und fühlen sich zum Großteil von ihren politischen Führern im Stich gelassen. 

„Ständig erzählen die Alten uns Geschichten von Nigerias ruhmreichen Jahren“, sagt ein Jungwähler. Er wünsche sich eine Rückkehr in die Zeit, bevor der Nordosten des Landes in die Hände von Boko Haram und anderer Dschihadisten fiel; bevor Benzin- und Bargeldengpässe den Alltag lahmlegten; und bevor 52 Prozent der Nigerianer wegen der vielen Probleme sich bereiterklärten, das Land Richtung Europa oder USA verlassen zu wollen. 

Manch ein Entwicklungsexperte betrachtet Nigeria als Pulverfass. Fast jeder dritte Nigerianer lebt von weniger als zwei Euro pro Tag. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl Englands. Ob Tinubu die erhoffte Veränderung bringt? Der 70-Jährige verfügt über ein weites Netzwerk und Einfluss (Spitzname „Der Pate“), doch über seinem Kopf schweben Korruptionsvorwürfe.

Für Furore sorgte er mit der Wahl seines Stellvertreters Kashim Shettima: Er ist, wie Tinubu selbst, Muslim. Dabei bleibt Religion ein heikles Thema in Nigeria. Ein ungeschriebenes Gesetz sah deshalb eine Aufteilung der Staatsspitze zwischen Christen und Muslimen vor. Bisher zumindest. Auch eine Antwort, wie es um seine Gesundheit stehe, blieb Tinubu den Nigerianern schuldig. 

Erfolge in Lagos

Tinubu versprach, die Landwirtschaft voranzubringen und Jobs zu schaffen. Er verwies auf seine Erfolge in der Wirtschaftsmetropole Lagos. „Doch er muss beweisen, dass er sofort voll einsatzfähig ist und dass er immer noch die respekteinflößende Kraft ist, die einst das moderne Lagos aufbaute“, analysierte die BBC. 

Von seinem Vorgänger Muhammadu Buhari erbt Tinubu ein besonderes Problem: Dem ölreichen Staat ging wenige Tage vor der Wahl nicht nur das Benzin aus, sondern wegen einer chaotischen Währungsreform auch das Bargeld. Viele Nigerianer besitzen kein Konto. Bei gewaltsamen Protesten gingen zwei Banken in Flammen auf. Möglicherweise kann Tinubu das Problem eher lösen als Ex-General Buhari: Er ist ausgebildeter Buchhalter und bringt jahrelange Berufserfahrung aus den USA mit.

Stanley Achonu, Nigeria-Direktor der ­Entwicklungsorganisation „One“, sagt, die Wahl habe für seine Landsleute „weitreichende Folgen“. Zu Bedrohungen wie der Klimakrise und Gewalt kam jüngst wachsende Armut dazu. Grund dafür seien eine Rekord-Inflation, die Folgen der Covid-Pandemie und des Ukrainekriegs sowie steigende Arbeitslosigkeit. „Schätzungsweise hat dieses Zusammenspiel weitere 15 Millionen Nigerianer in die Armut getrieben, was die Gesamtzahl auf 133 Millionen bringt“, sagt Achonu. 

Fehlende Stimmzettel

Tinubus erste Herausforderung besteht darin, das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen. Denn sein Sieg folgt einem Wahlkrimi mit fehlenden Stimmzetteln, einem Zusammenbruch des elektronischen Wahlsystems, Gewalt gegen Wahlhelfer und tagelangem Warten auf das Ergebnis. Mancherorts wurde die Abstimmung bis in die Nachtstunden verlängert – oder sogar auf den Folgetag verschoben. 

„Es kursieren Berichte von Sabotage“, kritisiert Caritas Nigeria. „Manche Beamte behinderten die Anlieferung von Wahlmaterial mit der Absicht, ihren Parteien einen politischen Vorteil zu verschaffen.“ Die katholische Hilfsorganisation war beim Urnengang mit 6000 Wahl­beobachtern vertreten. Über die mangelnden Vorbereitungen äußerte die Caritas „große Enttäuschung“.

Das Wahlchaos rief auch Alt-Präsident Olusegun Obasanjo auf den Plan. Er appellierte an den scheidenden Präsidenten Buhari, „jegliche Wahl zu annullieren, die nicht den Glaubwürdigkeits- und Transparenztest besteht“. Die Regierung unterstellte ihm daraufhin, Partei für die Opposition zu ergreifen. Der Zweitplatzierte Atiku Abubakar und der Drittplatzierte Peter Obi, der als Kandidat der Jugend galt, forderten Neuwahlen.

Markus Schönherr

07.03.2023 - Afrika , Politik