Am 16. Juli 1920, vor 100 Jahren, trat der Vertrag von Saint-Germain in Kraft. Für Österreich ist er so etwas wie der Versailler Vertrag für Deutschland: Er beendete den Ersten Weltkrieg und führte zu territorialen Einschnitten. So musste die erst 1919 gegründete Alpenrepublik etwa auf von Deutschen besiedelte Gebiete in Böhmen und Mähren verzichten – und auf das überwiegend deutschsprachige Südtirol.
„Wieso sprechen Sie als Italiener so gut Deutsch?“ Diese Frage deutscher Urlauber lässt einen Südtiroler immer wieder aufs Neue erstaunen – angesichts dieses geballten Unwissens über die Geschichte und die Bevölkerungsgeografie. Viele Deutsche meinen, ihre Muttersprache sei auf die Bundesrepublik, Österreich und die Schweiz beschränkt, allenfalls noch auf Liechtenstein.
Flucht und Vertreibung
Keine Rede ist von den Deutschen in Ostbelgien, im Elsass und in Lothringen oder in Nordschleswig – und schon gar nicht von jenen Resten deutscher Bevölkerung, die nicht durch Flucht, Vertreibung oder Spätaussiedlung ausgelöscht worden sind: von den Deutschen in Russland, der Ukraine, im Baltikum, in Kasachstan, Usbekistan, Siebenbürgen oder Schlesien.
Die Existenz der autochthonen deutschsprachigen Minderheit in Oberitalien bemerken viele Urlauber erst während ihres Besuchs in Südtirol. Das nur knapp 7500 Quadratkilometer große Gebiet zwischen dem Brennerpass und der Salurner Klause bildet heute eine Autonome Provinz der Republik Italien mit Bozen als Hauptstadt.
Die Einwohner sprechen eine südbairische Mundart, die sich auch über die bei Österreich verbliebenen Gebiete Osttirol, Kärnten und die südlichen und östlichen Teile Nordtirols erstreckt. Von etwas mehr als 520 000 Einwohnern Südtirols bekennen sich zwei Drittel zur deutschen, etwas mehr als ein Viertel zur italienischen und der überwiegende Rest zur ladinischen Volksgruppe.
Am Anfang ein Treuebruch
Wie nun kam das deutschsprachige Land zu Italien? Am Anfang steht ein Treuebruch: 1915 erklärte das Königreich Italien seinem Verbündeten Österreich-Ungarn den Krieg. Der Londoner Geheimvertrag hatte Italien zugesichert, dass es als Gegenleistung für seinen Kriegseintritt auf Seiten der Entente den Brennerpass am Alpenhauptkamm als Nordgrenze bekommen würde.
Im schroffen Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, das auch den „14 Punkten“ von US-Präsident Woodrow Wilson zugrundelag, wurde auf der Friedenskonferenz von Paris 1919 Tirol geteilt: Der Süden des Landes kam gegen den eindeutigen Willen der damals fast durchweg deutschsprachigen Bevölkerung zum Königreich Italien. Österreich stimmte der Abtretung im Vertrag von Saint-Germain zu – wenn auch unter Protest.
Deutscher Schulunterricht unter Mussolini verboten
Nur zwei Jahre später kamen die Faschisten in Rom an die Macht. Ihr „Duce“ Benito Mussolini verbot den Namen Tirol, benannte Südtirol in „Alto Adige“ (Oberetsch) um und stellte deutschen Schulunterricht unter Strafe. Um das Verbot zu umgehen, organisierten mutige Frauen und Männer wie Kanonikus Michael Gamper, Josef Noldin, Rudolf Riedl und Angela Nikoletti deutschsprachigen Unterricht im Geheimen.
Wer ertappt wurde, lief Gefahr, auf süditalienische Strafinseln verbannt zu werden. Deutsche Beamte wurden entlassen oder in andere Provinzen versetzt. Drei Millionen Quadratmeter Obstanlagen und Edelreben wurden enteignet, um das Bozner Industriegebiet zu errichten und auf diese Weise Zehntausende Italiener anzusiedeln.
Hitler opferte die Deutschen Südtirols
Ausgerechnet Adolf Hitler opferte die Deutschen Südtirols seiner Machtpolitik: Mit Bündnispartner Mussolini schloss er 1939 ein Abkommen zu deren Umsiedlung, die sogenannte Option. Von den rund 250 000 optionsberechtigten Südtirolern entschieden sich 86 Prozent für die deutsche, der Rest für die italienische Staatsbürgerschaft.