Das Leben kann idyllisch sein – wie für die Kinder im Möwenweg – aber auch bedrückend. Denn wie fühlt es sich etwa an, wenn die eigene Mutter Depressionen hat? Welche Hoffnungen und Ängste haben Flüchtlinge? Oder Obdachlose? All diese Themen verarbeitet Kirsten Boie literarisch für Kinder und Jugendliche. Am 19. März wird die Autorin 70 Jahre alt. Im Interview mit unserer Zeitung spricht sie über Kindheit, das Lesen und ihr Herzensprojekt, den Einsatz für Waisenkinder in Afrika.
Frau Boie, Sie werden jetzt 70 Jahre alt. Bekannt und beliebt sind Sie für Ihre Kinder- und Jugendbücher, in denen sich Kinder jeden Alters und jeder Schicht wiederfinden. Was haben Sie als Kind besonders gerne gelesen?
Ich habe Astrid Lindgren geliebt, aber auch Erich Kästner – und die Kinderkrimis von Enid Blyton. Wie die (meisten) Kinder heute auch mochte ich es, wenn es lustig oder spannend war. Darum verstehe ich gut, dass Bücher zu ernsten Themen nicht das Erste sind, wonach Kinder greifen, egal, was ich mir wünsche.
Sie schreiben Fantasy, Bücher über besondere familiäre Situationen, psychische Erkrankungen der Eltern, historische Romane und Bilderbücher. Welche Gattung und für welches Alter schreiben Sie am liebsten?
Alle und für alle! Ich schreibe jeweils nur, wenn mir eine Idee, ein Thema oder eine Geschichte spannend erscheint; und das kann eben ganz unterschiedlich sein.
Bevor Sie begannen Bücher zu schreiben, waren Sie Lehrerin. Hat Sie das beim Schreiben beeinflusst?
Natürlich, sehr stark. Jahrelang war ich dabei ja täglich mit Kindern zusammen, schon bevor ich meine eigenen bekam. Dabei habe ich mich täglich mit den Freuden, Schwierigkeiten und Problemen von Kindern auseinandergesetzt. Das schärft sicher den Blick.
Sie setzen sich mit verschiedenen Projekten für die Leseförderung ein. Warum hat sich Ihrer Meinung nach das Leseverhalten der Kinder in den vergangenen Jahren verändert?
Ja, es hat sich verändert. Dafür gibt es viele Gründe, aber der wichtigste ist sicher die Medienkonkurrenz. Wenn schon Zweijährige souverän mit Apps auf dem Tablet umgehen, weil sie da ja quasi nur wischen müssen, und dabei Spaß haben, dann werden sie es später schwer haben, auch Spaß am zunächst ja sehr anstrengenden Lesen zu finden. Zudem konkurrieren inzwischen so viele Medien um die Aufmerksamkeit der Kinder: PC-Spiele, Soziale Medien, -YouTube, Filme – und Bücher. Für alle reicht die Zeit nicht aus.
Wie kann man Kinder am Besten zum Lesen bringen?
Früh anfangen, Bilderbücher gucken, wenn sie noch ganz winzig sind – spätestens mit einem Jahr –, wobei da auch das Reinbeißen und Durch-die-Gegend-Schmeißen dazugehört. Dann vorlesen, vorlesen, vorlesen. Damit die Kinder lernen, innere Bilder zu entwickeln, wenn sie einfach nur Sprache hören – das müssen sie sonst ja nie, die Bilder sind ja immer schon da.
Eltern sollen auch nicht aufhören vorzulesen, wenn die Kinder selbst lesen können – das geht nämlich zunächst noch so langsam, dass sie dabei gar keinen Spaß haben können. Außerdem sollte ruhig die Zeit für die anderen Medien altersgemäß begrenzt werden.
Zu welchen Themen wollen Kinder denn heute besonders gerne lesen? Und was macht Ihrer Meinung nach ein gutes Kinder- oder Jugendbuch aus?
Kinder bevorzugen immer noch lustige und spannende Geschichten, egal, ob in der Realität angesiedelt oder Fantasy. Bei Jugendlichen ist seit Jahren hauptsächlich Fantasy und Romantacy – eine Mischung aus Romantik und Fantasy – erfolgreich. Wenn es um Realität geht, ist auch die sogenannte „sick lit“, also Literatur über Jugendliche mit schweren Krankheiten gefragt, in der auch schon mal ordentlich, wenn auch romantisch, gestorben wird.
Und was ein „gutes“ Kinder- oder Jugendbuch ist, kann vermutlich so einfach niemand sagen. Es sollte die Kinder ernst nehmen, psychologisch stimmen, Klischees vermeiden. Es sollte sprachlich erfreulich sein. Es sollte helfen, die Wirklichkeit und sich selbst besser zu verstehen. Das alles kann übrigens durchaus auch -Fantasy leisten.
Wie stehen Sie zu Glaube und Religion? Ist Religion wichtig für Menschen und insbesondere Kinder?
Ich glaube, dass Kinder gestützt werden können, wenn sie – vor allem in schwierigen Situationen – daran glauben, dass es einen liebevollen Gott gibt, der alles kann und ihnen helfen wird. Ich kenne aber auch Fälle, wo Kinder in ständiger Angst vor einem strafenden Gott gelebt haben. Es hängt also sehr davon ab, wie Erwachsene den Glauben in das Leben von Kindern bringen.
Ich finde es wichtig, dass Kinder Geschichten aus der Bibel kennenlernen. Diese spielen ja in der europäischen Kultur eine große Rolle. Die Texte, die im Judentum, Islam und Christentum überliefert sind und ein gemeinsames Fundament aller drei Religionen bilden, erscheinen mir besonders wichtig. Darum habe ich die Geschichte von Noah im Bilderbuch neu erzählt.
In Ihren Romanen „Monis Jahr“ und „Ringel, Rangel, Rosen“ leben die Protagonistinnen in den 1950er beziehungsweise 60er Jahren. Auch Sie sind in dieser Zeit aufgewachsen. Wie hat sich Kindsein Ihrer Meinung nach seitdem verändert?
Ganz wesentlich ist die Fülle neuer Medien. Damals gab es zum Teil noch nicht einmal Fernsehen. Außerdem gab es sehr andere Kindheits- und Erziehungsvorstellungen. Darum haben sich die Anforderungen und Probleme für Kinder heute verschoben.