Nigeria steckt tief in der Krise: Terrorismus, Hunger und eine unsichere politische Zukunft machen dem westafrikanischen Land zu schaffen. Wilfred Chikpa Anagbe, katholischer Bischof von Makurdi im Süden Nigerias, nimmt im Exklusiv-Interview kein Blatt vor den Mund und kritisiert die Zustände in seiner Heimat scharf.
Herr Bischof, Nigeria ist etwas aus den deutschen Medien verschwunden. Die Terrormiliz „Boko Haram“ ist manchen Berichten zufolge geschwächt oder hat ihre Aktivität ins benachbarte Kamerun verlegt. Ist das tatsächlich so?
Als jemand, der in Nigeria lebt, weiß ich, dass Boko Haram leider in keiner Weise geschwächt ist, sondern sich in verschiedene Terrorgruppen in verschiedenen Teilen Nigerias aufgeteilt hat. Im Nordosten Nigerias spricht man von Boko Haram. Der Nordosten ist eigentlich das Hauptquartier der Terrororganisation. Im Nordwesten ist dagegen eher die Rede von Banditen, die diesen Teil Nigerias terrorisieren.
Im Norden trifft man auf die Fulani-Terrorgruppe, die auch als „Viehhirten“ bezeichnet werden. Im Süden spricht man von „unbekannten Schützen“. Nigeria ist in der Tat zu einem Schlachtfeld geworden. Wer auch immer gesagt hat, dass sich die Situation verbessert habe oder dass die Terrororganisation geschwächt wurde, spielt mit dem Leben der Menschen.
Neben „Boko Haram“ – Sie sagten es – greifen auch die muslimischen Fulani-Viehhirten Christen an. Kirchenvertreter betonen mitunter, die religiöse Motivation sei in diesem Konflikt nur vorgeschoben. Wie sehen Sie das?
Ich sehe das ganz anders. Dies hat einen eindeutig religiösen Hintergrund. Ständige Angriffe auf wehrlose Gemeinschaften in meist christlich dominierten Gebieten von Benue und anderen Teilen Nigerias deuten auf einen Dschihad hin, der auf die Islamisierung Nigerias abzielt. Ob es einem gefällt oder nicht, die Wahrheit muss ausgesprochen werden.
Die Regierung bezeichnet es gerne als „Bauern- und Hirtenkrise“, aber das ist es nicht. Denn im Bundesstaat Benue gibt es keine indigenen Hirten. Die Menschen und Ackerbauern haben wenig oder gar kein Interesse an Konflikten mit Viehhirten. Es sei denn – wie es derzeit der Fall ist –, es kommen einige Terroristen als Hirten getarnt von außerhalb, um die lokale Bevölkerung zu töten, zu vergewaltigen, zu verstümmeln und zu vertreiben sowie um Land zu besetzen, das den Einheimischen gehört.
Wenn dies kein Dschihad gegen Christen wäre, warum sollten die islamischen „Hirten“ dann Kirchen, Schulen und Märkte angreifen? Warum müssten sie irgendjemanden töten, um Zugang zu Nahrung für ihr Vieh zu bekommen? Warum besetzen sie weiterhin Länder, aus denen sie vertrieben wurden?
Die nigerianische Regierung vermittelt der Welt den Eindruck, dass dieses ganze Problem durch den Klimawandel verursacht wird. Aber hier geht es nicht um den Klimawandel. Der ist ein universelles Problem, und verschiedene Länder haben einen ganzheitlichen Ansatz gewählt, um ihm entgegenzuwirken. Warum sollte die Regierung in Nigeria dies nicht auch tun?
Das sinnlose Töten von Menschen und die Zerstörung von Eigentum im Namen des Klimawandels, wie es in Nigeria beobachtet wird, kann keine vernünftige Lösung sein. Auch die Methode der offenen Beweidung durch die Nutztiere fördert die Umweltzerstörung.
Die Regierung sollte die Probleme des Klimawandels angemessen angehen, wenn sie der festen Überzeugung ist, dass dies der Grund für die Operationen der terroristischen Fulani-Hirtengruppe ist. Andernfalls sollte sie Verantwortung übernehmen und zugeben, dass sie bislang darin versagt hat, ihre Bürger zu schützen.
Wenn man sich die Vorgehensweise von Boko Haram und anderen islamistischen Gruppen anschaut, sieht man ähnliche Muster. Sie alle wollen die westliche Bildung zerstören, Gebiete erobern und besetzen, insbesondere christliche Mädchen und Frauen entführen und versklaven, sie nach Belieben vergewaltigen und missbrauchen sowie ganze Bevölkerungsgruppen gewaltsam zum Islam konvertieren.
Dies passiert überall in Nigeria, auch in meiner Diözese, wo Millionen aus der Heimat ihrer Vorfahren vertrieben wurden. Angesichts der Gräueltaten der Fulani-Hirten, die offensichtlich ganze Bevölkerungsgruppen in Nigeria unterjochen oder gar ausrotten wollen, ist es seltsam, dass manche religiöse Führer als Grund dafür den Klimawandel nennen.
Immer wieder werden Christen Opfer von Anschlägen. An Pfingsten wurden beim Angriff auf eine Kirche in Owo im Bundesstaat Ondo zahlreiche Gläubige getötet. Offenbar gelingt es der Regierung nicht, solcher Gewalt einen Riegel vorzuschieben. Manch ein Beobachter sieht Nigeria angesichts der kritischen Sicherheitslage sogar als „gescheiterten Staat“ – zu Recht?
Schon vor dem Angriff von Owo gab es viele Angriffe auf christliche Gemeinschaften in Nigeria. Am 24. April 2018 beispielsweise wurden zwei Priester und einige Christen in meiner Diözese Makurdi getötet, als sie die Heilige Messe feierten. In meiner Diözese gibt es seit 2009 immer wieder Angriffe auf christliche Dörfer. Inzwischen gibt es Orte, die ich wegen der Besetzung durch jene Terrorgruppen, die möglicherweise Owo angegriffen haben, nicht mehr besuchen kann.