Spanien in der Krise

Schimpftiraden und Drohnen

Spanien wurde von der Pandemie hart getroffen. Am Wochenende verschärfte die Regierung die Ausgangssperre noch einmal. Der harte Kampf des Staats gegen das Virus ist allerdings oft auch da gnadenlos, wo einzelne Bürger gegen die erlassenen Maßnahmen verstoßen. 

Ein Mann steht auf der Straße. Allein. Er hat offenbar gegen die Ausgangssperre verstoßen. Auf die Straße darf derzeit in Spanien nur, wer arbeiten, einkaufen, zum Arzt, in eine der gelegentlich geöffneten Kirchen oder mit dem Hund Gassi geht. 

Dem Mann nähert sich ein Polizist. Dieser stellt sein Gegenüber zur Rede. Der Mann antwortet nicht. „Ich knalle dir jetzt eine! Ich reiß’ dir den Kopf ab!“, schreit der Polizist, der offensichtlich nicht weiß, dass ihn von einem Fenster aus eine versteckte Kamera filmt. Der so Angegangene bleibt defensiv. 

Da zückt der Polizist einen Schlagstock und beginnt zu prügeln. Der Klang der Schläge zerreißt die Luft. Ein zweiter Beamter eilt hinzu. Beide pressen den angeblichen Straftäter bäuchlings auf den Asphalt. Sie legen ihm Handschellen an. Wie im Triumph stemmt der erste Beamte einen Fuß auf den Rücken des Verhafteten.

Schockierende Videos wie dieses verbreiten sich in Spanien gegenwärtig über die sozialen Medien. Bei anderer Gelegenheit sieht man, wie zwei Polizisten eine Joggerin überwältigen und, als wäre sie eine Schwerkriminelle, brutal auf den Boden drücken. Deren Hilfeschreie quittieren mehrere Beobachter mit Schimpftiraden – und zwar auf die Frau. 

Die Beispiele belegen, wie sich die Ausgangssperre auf den Gemütszustand der Spanier auswirkt. Es gibt Leute, die es daheim nicht mehr aushalten, erdrückt von Decken und Wänden, aufgerieben durch Spannungen. Verzweifelte Strategien des Ausbruchs aus der Enge treiben sie auf die Straße – und dort in die Arme von Gesetzeshütern. Diese wiederum agieren im schlimmsten Fall mit dem Knüppel statt mit Fingerspitzengefühl. Solche Phänomene lassen erahnen, dass jeder Einzelne der Gesellschaft mit der derzeitigen Situation überfordert ist.

Alarmzustand verlängert

Der Zeitraum der Ausgangssperre wird voraussichtlich über einen vollen Monat ausgedehnt. Die Regierung hat den zunächst auf zwei Wochen begrenzten Alarmzustand bis zum Osterwochenende verlängert.

Verstöße gegen die Ausgangssperre ziehen nach den offiziellen Verlautbarungen harte Strafen nach sich. Landesweit kam es nach Angaben des Innenministeriums bereits zu zehntausenden Anzeigen und hunderten Festnahmen. Auf Gran Canaria wurde ein Mann, der sich der häuslichen Quarantäne widersetzte und sich mit Ordnungshütern anlegte, zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.

Die Deutschen verbinden mit dem beliebten Urlaubsland eigentlich die lockere Leichtigkeit des Seins. Es gibt derzeit durchaus auch solche Szenen: Anwohner halten über Balkone hinweg mit den Nachbarn ein Schwätzchen, musizieren miteinander. Krisen können das Beste im Menschen hervorbringen – aber auch seine Schattenseiten. 

Zur Zeit treten zunehmend Letztere zutage. Auch unter Nachbarn mehren sich Neid und Argwohn, Bespitzelungen sind die Folge. Nach einem Bericht der Zeitung „La Vanguardia“ gehen bei der Stadtpolizei in Barcelona täglich über 300 Anrufe von Bürgern ein, die ihre Mitbürger anschwärzen. Dahinter steht oft der Verdacht: Wer hat sich aufgemacht, um offenbar illegal spazieren zu gehen?

Eine Nachbarschafts-Observation im Baskenland brachte die Polizei auf die Spur eines Hundehalters, der seinen Vierbeiner binnen weniger Stunden achtmal ausführte. Da hatte jemand eine Strichliste geführt. Um sich vor Nachbarsblicken zu schützen, verhängen manche Leute das Sichtfeld auf Dachterrassen mittlerweile mit Tüchern und Stoffen. Der Kontroll- und Überwachungsstaat hat plötzlich überall Augen und zeigt seine hässlichste Fratze. 

Niemanden gefährdet

Die Polizei setzt zur Überwachung mittlerweile Drohnen ein. Aus der Luft sind schon einsame Spaziergänger und Hundeausführer in den Bergen ausfindig gemacht und in Koordination mit Beamten am Boden gestellt worden. Der gesunde Menschenverstand und die Einsicht, dass man in der Abgeschiedenheit der Natur niemanden gefährden kann, zählten offenbar nicht.

So scheinen Spaniens Politik und Behörden die Folgeschäden der Quarantäne auszublenden: dazu gehören Traumatisierung, gepaart mit Existenzängsten. Die Zunahme von Alkoholismus und Fettleibigkeit und damit die Gefährdung der Gesundheit. Auch Selbstmorde nehmen zu. Publik wird allein der Anstieg von Fällen männlicher Gewalt – in dem Land, in dem der Begriff des „Machismo“ – für Männlichkeitswahn – seinen Ursprung hat. Schon jetzt haben mehrere Frauen das Eingesperrt-Sein mit ihren Peinigern mit dem Leben bezahlt. 

Spanien treibt ein Hochrisiko-spiel: Bis zu welchem Punkt ist es vertretbar, das Feuer der Pandemie zu löschen, während anderswo neue Brandherde riskiert werden und unkontrolliert bleiben? Auf diese Frage wird man letztlich auch in anderen Staaten Antworten finden müssen.

Andreas Drouve

01.04.2020 - Ausland , Corona , Politik