Politik-Spektakel und Volksfest

Demokratie mal ganz direkt

Im Norden lockt der Walensee, im Süden die Dreitausender der Alpen. Dazwischen liegt ein weites Tal, das über den Klausenpass Richtung Vierwaldstättersee führt. Es ist der Kanton Glarus, der gewöhnlich am ersten Maisonntag sein größtes Fest feiert: die Landsgemeinde. Für viele seiner gut 40 000 Bürger ist sie wichtiger als Ostern und Weihnachten zusammen. Schließlich prägt die Landsgemeinde seit mehr als einem halben Jahrtausend das Leben im Kanton. 

Schon morgens lädt die Harmoniemusik Glarus zum Fest. Mehr als 50 Musikanten blasen vor dem Rathaus allen Frühaufstehern den Marsch. Noch ist das Wetter gnädig, weshalb die Organisatoren darauf verzichtet haben, die Landsgemeinde um eine Woche zu verschieben. Wie Perlen an der Schnur reihen sich im Stadtzentrum die Buden der Kunsthandwerker und Händler neben den Ständen der Gastronomen. Die Landsgemeinde ist auch Volksfest – nicht nur eine Demonstration direkter Demokratie.  

Zaunplatz heißt der große Parkplatz wenig weiter, den unter anderem Berufsfachschule, Kantonsverwaltung, eine Konditorei und eine Autowerkstatt rahmen. Heute aber sind ringsum Tribünen aufgeschlagen. Der Ring dient den stimmberechtigten Bürgern des Kantons als Meinungsforum. Mit großen, farbigen Stimmkarten passieren sie die kontrollierten Zugänge. „Mitlandlüt“ heißen sie in Glarus. Als „größtes Parlament der Welt“ gelten sie den Gästen aus aller Welt, für die weitere Tribünen aufgestellt wurden. Sie wollen beim jährlichen Demokratie-Spektakel dabei sein, das längst zu den geschützten lebendigen Traditionen der Schweiz gehört.

Kurz vor 10 Uhr geleiten die Musikanten samt einer Ehrenforma­tion der Schweizer Armee die Regierungsvertreter in Frack und Zylinder zum Landsgemeindeplatz, dazu eine Schar von Ehrengästen. Inzwischen allerdings regnet es in Strömen, die umliegenden Berge sind in den Wolken verschwunden. Schlechtes Wetter ist man in Glarus gewöhnt, aber man weiß auch, dass sich der Himmel schnell wieder aufhellen kann. 

Geschätzte Mehrheit

Unter schützendem Dach eröffnet der Landammann die Landsgemeinde. Er ist der Regierungspräsident des Kantons und der Ring-Richter, der bei den Abstimmungen die Mehrheit der Stimmen abschätzt – abzulesen an den hochgehaltenen Stimmrechtsausweisen. Regt sich kein Widerspruch dagegen, gilt seine Schätzung als nicht mehr anfechtbar. 

„Ich bitte für Land und Volk von Glarus um den Machtschutz Gottes“, beendet der Landammann traditionell seine Rede. Es ist gewöhnlich der einzige Moment, an dem geklatscht wird. Ansonsten sind Beifalls- oder Missfallenskundgebungen verpönt. Danach wird die Landsgemeinde vereidigt, startet der Landammann, gestützt auf das Landesschwert, die politischen Geschäfte. 

Schon lange vorher hat man den Glarner Stimmbürgern das sogenannte Memorial zugeschickt, ein manchmal über 100 Seiten starkes Druckwerk, in dem alles, was zur Abstimmung ansteht, dokumentiert ist. Dazu gehört vor allem der Haushalt, den das Parlament des Kantons erarbeitet hat. Meist gibt es keinen Grund, ihn abzulehnen. Wer will, kann trotzdem öffentlich Stellung nehmen. Schließlich startet die Diskussion über jeden Punkt der Tagesordnung mit dem Satz „Ds Wort isch frii“.

Die Landsgemeinde entscheidet über Verfassung und Gesetzesänderungen, über alle Investitionen von mehr als einer Million Franken und alle wiederkehrenden Ausgaben von mehr als 200 000 Franken. Auch den Erwerb von Grundstücken im Wert von mehr als fünf Millionen Franken muss sie gutheißen, ebenso steuerliche Änderungen. Sie stehen häufig auf der Tagesordnung. Auch an diesem Maisonntag. Den Verheirateten in Glarus bringt das Votum eine zumindest kleine Entlastung. Größere Steuerentlastungen lehnt die Landsgemeinde ab. Schließlich braucht der Kanton für seine Arbeit auch genügend Geld.

Älteste Privilegien

Wie immer wird anfangs gewählt: alle zwei Jahre ein neuer Landammann samt Vizepräsident, daneben ein paar Richter. Schließlich gehört die Gerichtsbarkeit zu den ältesten Privilegien der Landsgemeinde. Schon die erste Verfassung sah jährlich die Wahl eines Gerichts aus 15 Männern vor. Außerdem wurde den Stimmbürgern das Recht eingeräumt, die Landessatzung jährlich zu ändern, sie mit einfacher Mehrheit der Zeit anzupassen. 

Jeder Stimmbürger hat das Recht, Anträge auf Unterstützung, Abänderung, Ablehnung, Verschiebung oder Rückweisung der Abstimmungsvorlagen zu stellen. Damit unterscheidet sich Glarus von der anderen noch existierenden Schweizer Landsgemeinde in Appenzell. Dort kann das Volk nur Ja oder Nein sagen, aber keinen direkten Einfluss auf die kantonale Politik nehmen.

Stimmberechtigt waren jahrhundertelang nur Männer. Erst 1971 erlaubten die Glarner auch Frauen die Teilhabe an der Landsgemeinde. Sie brachten neuen Schwung und teilweise Abstimmungen, die kaum jemand erwartet hatte. 2007 etwa, als die Landsgemeinde als erster und bisher einziger Schweizer Kanton entschied, das Stimmrechtsalter auf 16 Jahre abzusenken. Das passive Wahlrecht dagegen blieb bei 18 Jahren.

Aug’ in Aug’ stehen sich Stimmbürger und Mandatsträger in Glarus gegenüber, prallen konservative und progressive Ansichten aufeinander. „Nirgendwo sonst ist der demokratische Prozess so sicht- und greifbar wie hier“, schreibt der Politikwissenschaftler Lukas Leuzinger in seinem Buch über die Glarner Landsgemeinde, „obwohl die behandelten Geschäfte für die Schweiz und die Welt in aller Regel wenig relevant sind.“ 

Mehr als vier Stunden hat die Landsgemeinde inzwischen diskutiert, Punkt für Punkt ihres Memorials erledigt. Es ist ein Schlagabtausch wie jedes Jahr – doch anders als noch vor Jahrhunderten, als Massenschlägereien der von Wein und Schnaps beseelten Stimmbürger manche Landsgemeinde überschatteten. In vielen Kantonen hat man sie deshalb abgeschafft und durch Urnengänge ersetzt. In Glarus, wo die erste urkundlich belegte Bürgerversammlung aus dem Jahr 1387 datiert, ist sie geblieben.

Seine Meinung kund tun

Nach stundenlangem Regen ist schließlich die Sonne über dem Zaunplatz erschienen. Ihre trocknenden Strahlen rücken die zum Teil noch schneebedeckten Alpengipfel des Kantons neu ins Blickfeld. Rund ein Drittel der Glarner Stimmbürger hat den Tag genutzt, um die eigene Meinung kund zu tun – nicht viel weniger als bei Urnenabstimmungen in anderen Schweizer Kantonen. 

Stolz ist man, dass die Landsgemeinde den politischen Meinungsaustausch beflügelt, dass sich mindestens jeder 20. Bürger nach den Diskussionen unter freiem Himmel ermuntert fühlt, seine Meinung zu ändern. Das zumindest verraten wissenschaftliche Befragungen. Doch es gibt auch Argumente gegen die Glarner Versammlungsdemokratie. Wie etwa soll ein Arbeiter öffentlich abstimmen, wenn es um wirtschaftliche Hilfen für seinen Arbeitgeber geht? Ist die geheime Abstimmung nicht doch demokratischer? 

Das höchste Schweizer Gericht hat solche Fragen immer wieder neu beantworten müssen. Bislang haben die Bundesrichter die Versammlungsdemokratie als verfassungsgemäß verteidigt: Nachteile wie die nicht geheime Abstimmung stünden Vorteilen wie der direkten Beteiligung des Bürgers am demokratischen Willensbildungsprozess gegenüber.

Gemütliche Zusammenkunft

Spät nachmittags sind all diese Fragen in Glarus vergessen, wenn die „Mitlandlüt“ und ihre Angehörigen gemütlich zusammenkommen. Schließlich ist der erste Maisonntag das größte Familienfest im Kanton. Dann kommt traditionell die Kalberwurst auf den Tisch: eine weiße Brühwurst aus Kalbfleisch, Wurstspeck, Milch, Ei, Weißbrot und Gewürzen. Das Wurstrezept, längst gesetzlich geschützt, hat die Landsgemeinde 1920 beschlossen. Traditionell kommt es mit einer weißen Zwiebel-Sauce samt Kartoffelstamp und in Rotwein eingelegten Zwetsch­gen auf den Tisch. 

Missen will die Kalberwurst am Tag der Landsgemeinde kaum einer, auch nicht Wein, Bier und Schnaps. Da kann es dann mitunter passieren, dass mancher Stimmbürger nicht die demokratische Mitbestimmung an sich für die größte Errungenschaft rund um das Volksparlament hält – sondern das von den Ahnen einst öffentlich und gemeinsam besiegelte Wurstrezept. Günter Schenk

Informationen

über Glarus und seine Landsgemeinde finden Sie unter www.glarnerland.ch und www.landsgemeinde.gl.ch. Unter youtu.be/SlKHt1Hozyo ist ein Film über die Landsgemeinde in Glarus zu sehen.

02.05.2024 - Demokratie , Politik , Schweiz