Einst prägten verzierte Fachwerkhäuser die Orte in vielen Gegenden Hessens und angrenzenden Regionen. Heute sieht man sie nur noch selten. Mit ihrem Verschwinden droht die Handwerkstechnik unterzugehen, der diese Häuser ihren ungewöhnlichen Reiz verdanken: der Kratzputz.
Man muss gar nicht besonders aufmerksam sein, um bei der Fahrt durch das sogenannte hessische Hinterland westlich von Marburg die Kratzputzfassaden zu entdecken. Sie fallen auf. Florale Muster wie verschnörkelte Blumen- und Pflanzenranken, Figuren und Tierdarstellungen, aber auch Gegenstände, Symbole und Sinnsprüche sowie grafische Elemente zieren die von den Holzbalken der Fachwerkhäuser gesäumten Gefache. Nicht selten sind die gesamten Flächen von Giebel- und Traufseiten verziert.
Letzter seines Fachs
Die Kratzputzfassaden sind echte Hingucker, die das Ortsbild bereichern. So wie in Holzhausen, Dorf einer Großgemeinde, die nach der Dautphe, dem Nebenfluss der Lahn, benannt ist. Es gilt als Hochburg des Kratzputzes. Hier findet man zahlreiche Häuser und Hofanlagen mit dekorierten Fassaden. In Holzhausen hat auch Hans-Peter Donges seinen Betrieb. Der Malermeister ist momentan der letzte Handwerker, der die Tradition aufrechterhält.
Von ihm möchte man gerne wissen, was das eigentlich ist: Kratzputz. „Zunächst wird Kalkputz auf das Lehmgeflecht, das die Gefache füllt, aufgetragen“, erklärt Donges. „Die noch feuchte Oberfläche wird danach gestaltet.“ Das muss einigermaßen schnell gehen. „Erst bearbeite ich die Fläche gleichmäßig mit einem Reisigbündel. So entsteht ein plastischer Hintergrund. Das nennen wir Stippen oder Stupsen“, führt der Fachmann aus.
Danach wird die Putzschicht mit einem glatten Rand an den Holzbalken entlang versehen. „Das erhöht die Festigkeit der übrigen Fläche.“ Im Anschluss folgt der dritte Akt: das Modellieren der Motive. „Dafür benutzen wir größere und kleinere Spachtel.“ Alles muss längstens innerhalb einer Stunde über die Bühne gegangen sein. Nach der Trocknung kann eine farbige Fassung vorgenommen werden.
Werkzeuge sind Eigenanfertigung
„Im Grunde hat sich an dieser Technik seit Jahrhunderten nicht viel geändert“, blickt Donges zurück, der seinen Malerbetrieb in siebter Generation führt. „Meine Familie ist nachweislich seit 1782 im Kratzputz-Geschäft tätig, wahrscheinlich sogar länger.“ Die Anfänge der Technik liegen im 17. Jahrhundert. Auch die Werkzeuge sind traditionell. Einige wie die Reisigbündel oder das Nagelbrett wird man vergeblich im Baumarkt suchen, sie sind Eigenanfertigungen. Das gilt erst recht für die Kratzputz-Motive.
Die besondere Technik, für die der Begriff „kratzen“ eigentlich auf eine falsche Fährte führt, ist das eine. Das andere ist die Tatsache, dass die Handwerker seit jeher auch die Gestalter der Motive waren. „Mein Vater war ein Künstler, der aus dem Handgelenk die Motive in den Putz brachte“, erinnert sich Donges. „Ich übernehme nur die Entwürfe.“ Musterbücher als Ideengeber existieren nicht, aber vieles sei durch Fotos dokumentiert. Natürlich hatten die Auftraggeber auch eigene Vorstellungen, aber die künstlerische Umsetzung oblag den Handwerkern.
Historisches Erbe
Neben dem Hinterland lassen sich Kratzputz-Arbeiten in Hessen auch in und um Marburg sowie im Schwalm-Eder-Kreis weiter nördlich finden. Klaus Ronzheimer ist einer, der um die Bedeutung des Kratzputzes weiß. Sein Hof in Herzhausen, dem Nachbardorf von Holzhausen, „ist ein historisches Erbe“, sagt er. „So etwas gibt man doch nicht auf.“ 1989 Arbeiten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts hat er aufwändig erneuern lassen.