Seit einem Jahr, seit dem 24. Februar 2022, führen russische Truppen Krieg gegen die Ukraine. Christian Wehrschütz berichtet für den Österreichischen Rundfunk ORF aus Kiew. Im Exklusiv-Interview spricht der 61-Jährige über Putins Ziele, Sinn und Unsinn der Sanktionen gegen Russland, die westlichen Waffenlieferungen und die Aussichten auf ein baldiges Kriegsende.
Herr Wehrschütz, welche Bilanz ziehen Sie nach einem Jahr Ukraine-Krieg?
Ich war nicht überrascht, wie heldenhaft, mutig und tapfer die ukrainischen Soldaten gekämpft haben, aber ich war höchst überrascht, wie stümperhaft der russische Angriffsplan war. Aus einem Versuch eines Blitzkriegs wurden ein Stellungs- und vor allem ein Abnützungskrieg. Das ist zum Beispiel wie bei einem Boxkampf, wo einer die eine und der andere eine andere Runde gewinnt. Aber es ist noch keine Entscheidung in diesem Krieg gefallen. Die Ukraine konnte sich als Staat behaupten, allerdings nicht im alten Territorium von 1991 oder vom 23. Februar 2022. Wir werden in den kommenden Wochen sehen, wie stark die russische Dampfwalze tatsächlich sein und wie kräftig die Ukraine durchhalten kann, ehe verstärkte westliche Hilfe eintrifft.
Was hätten Sie am 1. Februar 2022 gesagt, wenn ich Ihnen prophezeit hätte, Russland würde in Kürze einen lange andauernden Bruderkrieg entfachen?
Ich wäre von Ihrer Prophezeiung nicht überrascht gewesen, denn nicht zuletzt dank meiner militärischen Ausbildung und meinem guten, nach wie vor bestehenden Kontakt zum österreichischen Bundesheer haben wir auch diese Variante durchgespielt und sie für möglich gehalten – allerdings unter drei Einschränkungen. Erstens war es uns von Vornherein klar, dass man mit 100 000 oder dann auch mit 200 000 Mann die gesamte Ukraine nicht wird besetzen können. Zweitens war die Frage offen, wird der Angriff nur regional im Osten erfolgen oder das ganze Territorium umfassen. Ich war immer der Meinung, es wird ein großer Angriff, nicht zuletzt deswegen, weil die Sanktionsdrohungen ernst zu nehmen waren und man derartige Sanktionen nicht in Kauf nimmt, nur um zwei Oblaste zu erobern. Ich glaube allerdings nicht, dass man von einem Bruderkrieg sprechen kann, weil die Idee und der Begriff der Brudervölker etwas ist, was von der sowjetischen oder dann der russischen Propaganda stammt. Derzeit sind das überhaupt keine Brüder mehr, sondern bestenfalls zutiefst gespaltene Nachbarn.
Welche Ziele verfolgen die Präsidenten Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj?
Putin verfolgt, so glaube ich, nach wie vor sein grundlegendes Kriegsziel. Das ist die Ausschaltung der Ukraine als westlicher geopolitischer Faktor. Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Der zweite ist, wenn man sich Putins Artikel und Aussagen zur Ukraine durchliest, dann ist klar, dass dieses Land für Putin extrem wichtig ist für die gesamte russische Geschichte, wie er sie sieht. Wir haben hier ein grundlegendes Missverständnis, auch im Westen. Offensichtlich ist für Putin und für gute Teile der russischen Elite die Ukraine als eigenständige Nation nicht denkbar oder nicht vorstellbar. Zweitens geht es darum, zu verhindern, dass sie ein westliches Bollwerk vor der russischen Haustür wird. Das sind nach wie vor die Grundziele, die Wladimir Putin verfolgt – bei aller Vorsicht, denn wir sind hier viel zu weit weg, um das wirklich im Detail wissen zu können. Wolodymyr Selenskyj verfolgt das Ziel, dass die Ukraine als Staat so gut und so konsolidiert wie möglich überlebt. Daher verfolgt er das zweite Ziel, den Westen immer stärker in den Konflikt hineinzuziehen. Für ihn ist klar, dass er ohne westliche Hilfe nicht überleben kann. Hier verfolgen der Westen und die Ukraine unterschiedliche Ziele, denn im Westen ist es klar, wie brandgefährlich es ist, wenn es zu einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland käme.
Sieht Moskau das Ganze als „gerechten Krieg“?
Ob Moskau das als „gerechten Krieg“ im Sinne des Völkerrechts oder der christlichen Morallehre sieht, kann ich nicht beurteilen. Aber es ist klar, dass Russland meint, auf ukrainischem Territorium einen Krieg gegen den Westen zu führen. In diesem Narrativ spielen die Neonazis in der Ukraine eine Rolle. Das ist völlig übertrieben und entstellt die Realität in der Ukraine völlig, noch dazu, wo der Präsident jüdischer Abstammung ist.
Kann Kiew dem Angreifer noch lange widerstehen?
Wie lange Kiew entgegenhalten kann, wird vor allem von westlicher Hilfe abhängen. Man darf nicht vergessen, dass bevölkerungsmäßig und von der Rüstungsindustrie her Russland viel größer und stärker ist.
Kann eine völlige Erschöpfung auf beiden Seiten dem Krieg ein Ende bereiten?
Eine Erschöpfung beider Seiten ist nicht erkennbar. Der Stellungskrieg der Deutschen und Franzosen hätte eigentlich 1916 ein Grund sein können, den Ersten Weltkrieg zu beenden. Aber das ist nicht passiert – nicht zuletzt wegen unterschiedlicher Wahrnehmungen und Hoffnungen. Die Westalliierten hofften auf den Kriegseintritt Amerikas. Deutschland und Österreich setzten auf die Niederlage Russlands – in der Hoffnung, dann die Tiefe und das Hinterland zu haben und den Krieg gegen die Westmächte bestehen zu können.Jetzt haben wir offenbar die Situation, dass Russland glaubt, gewinnen zu können. Die Ukraine verkauft diese Grundtheorie auch, aber im schwächeren Ausmaß. Der Ukraine geht es auch darum zu sagen: „Wir können nicht verhandeln und keine territorialen Zugeständnisse machen, weil es so viele Opfer gegeben hat.“ Ich glaube, das wäre ausgesprochen unpopulär unter der ukrainischen Bevölkerung. Ein Kriegsende ist derzeit auf keinen Fall absehbar.