Der siebenjährige Jean und seine kleine Schwester Josefine können es kaum erwarten. Was mag wohl in der großen Sporttasche sein, die die Frau aus dem fernen Europa mitgebracht hat? Für die Kinder ist es wie eine Weihnachtsbescherung. Jean und Josefine leben mit ihren Eltern und acht Geschwistern in einer kleinen Holzhütte auf einer Anhöhe im Dorf Bel-Ans, knapp 100 Kilometer östlich der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince in den Bergen.
Es gibt kein fließendes Wasser, manchmal Strom aus einem Dieselaggregat, und Radio hören kann eigentlich nur, wer Geld hat, um sich Batterien zu kaufen. Für die meisten Bewohner in Bel-Ans ist das Luxus. Statt Radio zu hören, ziehen manche Batterien sammelnd über die Dörfer, um wenigstens ein bisschen Geld zu verdienen. Reguläre Arbeit ist rar, die Energiequelle eines Radios für Haitianer oft wertvoller, als sein eigentlicher Zweck, die Information und Unterhaltung.
So sind viele Inselbewohner über das, was in ihrem Land und in der Welt passiert, oft nur oberflächlich unterrichtet. Manche Mädchen werden früh schwanger und verdingen sich als Hausfrau, derweil es besonders für Männer sehr schwer ist, ein reguläres Einkommen zu erwirtschaften. Lesen und schreiben können nur wenige. Offiziellen Angaben zufolge sind knapp die Hälfte der Haitianer Analphabeten.
Den Hunger stillen
Es würde also kaum Sinn machen, eine Zeitung zu kaufen und sie im Dorf reihum gehen zu lassen. So wie der Hunger nach Bildung in Bel-Ans kaum gestillt werden kann, so schwierig ist es, den Magen zu füllen. Die Bewohner ernähren sich von dem, was der ausgelaugte Boden hergibt, und sind froh über das, was sie durch den Verkauf von Bohnen, Erdnüssen und ein bisschen Obst in die Haushaltskasse bekommen.
So wie in Bel-Ans ist die Situation fast überall in Haiti. Die meisten leben buchstäblich von der Hand in den Mund. Haiti ist das ärmste Land Lateinamerikas. Fast scheint es, also habe sich das französischsprachige Eiland, dessen Bewohner überwiegend westafrikanische Wurzeln haben, von der positiven, wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas der vergangenen Jahre abgekoppelt.
Die Frau mit der Sporttasche ist Roseléne Klockenthör. Die gebürtige Haitianerin lebt seit Jahren in Norddeutschland. Die Wahl-Magdeburgerin Anfang 40 arbeitet in der Tourismusbranche und als Übersetzerin. Klockenthör spricht mehrere Sprachen fließend und ist oft im Ausland. Den Kontakt in ihre alte Heimat hat die zweifache Mutter nie abgebrochen. „Dafür sind mir die Menschen hier viel zu sehr ans Herz gewachsen“, sagt Klockenthör.
Eine Hütte ohne Fenster
Dann breitet sie aus Deutschland mitgebrachte Reis- und Nudelpakete, leichte Kinderkleidung, gebrauchtes Spielzeug, rezeptfreie Medikamente und Verbandszeug auf dem Boden aus. Von draußen dringt nur fahles Licht nach drinnen. Die Hütte ist fensterlos, es ist stickig. Eltern und Geschwister von Jean und Josefine schlafen auf einer zerschlissenen Matratze und ein paar Lumpen, die in der Ecke auf einem Haufen liegen.
Draußen gackern die Hühner, und manchmal verirrt sich eines nach drinnen. Gekocht wird im Freien, meist Bananen und Yam-Wurzeln. Sie schmecken so ähnlich wie Kartoffeln und sind in westeuropäischen Städten eine teure Delikatesse. Manchmal essen die Menschen Mais und ganz selten Huhn – wenn genügend Küken die dritte Lebenswoche überstanden haben, um den Bestand der kleinen Zucht zu sichern.