Schon am Morgen umschmeichelt trotz der Kälte die Sonne die Königliche Abtei Fontevraud, und bald erstrahlt die weiße Abteikirche in vollem Glanz: ein unvergesslicher Eindruck. Der Wegeplan zeigt, dass es noch viel mehr zu sehen gibt. Denn Fontevraud, gegründet um das Jahr 1100 vom Wanderprediger Robert d’Abrissel, entwickelte sich aus bescheidenen Anfängen zu einer grandiosen, nur dem Papst unterstellten „Klosterstadt“ und zu einem architektonischen Gesamtkunstwerk.
Fontevraud ist die größte klösterliche Anlage Europas und gehört seit 2000 zusammen mit dem Tal der Loire zum Weltkulturerbe der Unesco. Zu verdanken war die Entwicklung dem Haus Anjou-Plantagenêt. Die französischstämmige Herrscherdynastie stellte von 1154 bis 1399 in direkter Linie und bis 1485 in Nebenlinien die Könige von England. Sie förderte dieses Kloster und bestimmte es zu ihrer Grablege.
In der Abteikirche liegen Heinrich II. von England und Eleonore von Aquitanien im Langschiff in der obersten Reihe nahe am romanischen Chor. Hinter ihnen ruhen der wohl bekannteste Plantagenêt, Richard Löwenherz, und Isabella von Angoulême, Ehefrau seines Bruders Johann Ohneland – bekannt als „Prinz John“ aus den Robin-Hood-Geschichten. Mit Ausnahme von Isabella, deren Grabmal aus Holz geschnitzt ist, sind die Plastiken aus Kalktuff.
Ein Buch in Händen
Dargestellt sind alle in ihren jüngeren Jahren, auch Eleonore von Aquitanien, Richards Mutter, die mit rund 80 Jahren starb. Als gebildete Frau hält sie symbolisch ein Buch in ihren Händen. Die großen, gekrönten Königsstatuen halten ein Zepter. Die originalen Farben, vornehmlich Blau und Rot, sind weitgehend erhalten.
Robert d’Abrissel gründete die spätere Grablege des Hauses Anjou-Plantagenêt als gemischtes Kloster für Männer und Frauen. Von 1115 bis zu seiner Auflösung im Zuge der Französischen Revolution 1792 hatten dort 36 Äbtissinnen das Sagen. Petronilla von Chemillé war die erste. 15 von ihnen hatten königliches Blut in den Adern.
Allmählich entwickelten sich in Fontevraud vier getrennte Klöster: drei für Frauen mit strenger Klausur sowie eines gemeinsam für Priester und Brüder. Die Frauen beteten und pflegten Kranke, die Männer hatten die Arbeiten zu verrichten. Nach der Auflösung der Abtei ließ Napoleon sie in zehnjähriger Bauzeit zu einem Gefängnis umbauen. Noch bis 1963 galt Fontevraud als eine der härtesten Haftanstalten Frankreichs. Eine Ausstellung greift dies auf.
Mittlerweile aber hat Fontevraud nichts mehr von einer Justizvollzugsanstalt. Nach umfänglichen Restaurierungen ist es wieder schön anzusehen – ein Besuchermagnet nur wenige Kilometer vom Flusslauf der Loire entfernt. Gerne gehen auch Familien durch den Kreuzgang, schauen ins Refektorium und auf die Bilder im Kapitelsaal. 900 Jahre Geschichte sind wieder lebendig. Auch die achteckige romanische Kloster-Küche ist erhalten.
Zu verdanken ist die Wiedergeburt der Klosteranlage einer Initiative der Region Pays de la Loire, die 1975 das „Centre Culturel de l’Ouest“ gründete, eine Gesellschaft für die Belebung und Bekanntmachung der Abtei Fontevraud. Das ist gelungen. 2021 wurde dank einer Schenkung ein Museum für Moderne Kunst eröffnet: mit Werken des 19. und 20. Jahrhunderts. Für die Unterhaltung der Gäste sorgen Konzerte, Ausstellungen, Kurse und Kongresse.