Eine Grenze, die vereint

Kirchen-Kuriosum am Alpenpass

Seit der Bronzezeit wird der Brenner begangen. Die Römer legten einen Weg durch die Talsohle der Passfurche an. Dieser Weg wurde im Laufe der Zeit zur römischen Heerstraße ausgebaut. Im Mittelalter entwickelte sich diese Verbindung zur am häufigsten benutzten Alpenstraße – und damit zur wichtigsten Nord-Süd-Achse für den Fuhrwerks- und Personenverkehr. Zur Brennerstraße gesellten sich ab 1867 die Brennerbahn und gut ein Jahrhundert später die Brennerautobahn. 

Schon bevor Dauersiedlungen bestanden, existierte im sechsten Jahrhundert auf der Passhöhe eine Kapelle, die dem heiligen Valentin geweiht war. So erwähnt Venatius Fortunatus (um 540 bis 610) zu jener Zeit im Reisegedicht „Valentini templa“ auf seiner Route von Aquileia gen Norden ein Valentins-Heiligtum. Später wurde die größere und neue Valentinskapelle errichtet. Sie stellt das älteste erhaltene Bauwerk am Brennerpass dar.

Kirche beim „Prenner“

Das Kirchenschiff wurde im 15. Jahrhundert mit Unterstützung von Herzog Friedrich mit der leeren Tasche und Herzog Sigismund dem Münzreichen im Stil der Gotik neu errichtet. Der Bestand der kleinen Kirche wird durch eine der ältesten Deutschlandkarten aus dem 15. Jahrhundert, die Kardinal Nikolaus von Kues zugeschrieben wird, quellenmäßig belegt. Neben dem Namen „Prenner“ ist dort eine Kirche eingezeichnet.

Ende des 15. Jahrhunderts baten die Bewohner, eine Kaplanei auf dem Brenner zu errichten. Kaiser Maximilian als Tiroler Landesfürst unterstützte das Anliegen. 1495 wurden die entsprechenden Vereinbarungen getroffen. Damit erhielt die Gemeinde am Brenner das Recht zugestanden, sich einen Priester als Kaplan zu suchen, der von der Gemeinde und aus Kirchenmitteln unterhalten werden musste.

1710 wurde die Kaplanei zur Kuratie aufgewertet. Der Stiftsbrief hielt das Gebiet der neuen Kuratie neben den Angaben über „jährliches Einkommen, Bewohnung und Behülzung“ des Kuraten fest. Als Zeichen der Unabhängigkeit von der Kuratie Gossensaß fing der erste Brenner-Kurat Thomas Mayr gleich mit der Führung der Tauf-, Trauungs- und Sterbebücher an. Parallel zur Kuratie richtete man im Mesnerhaus eine Schule ein.

Heute gehört die Ortschaft Brenner wieder zu Gossensaß – oder besser gesagt: Sie bilden seit 1929 die gemeinsame Gemeinde Brenner. Die gleichnamige Pfarrei gehört zur Seelsorgeeinheit Wipptal. Ihre Pfarrkirche ist seit 1962 nicht mehr St. Valentin, sondern die nach Plänen des Architekten Luis Plattner errichtete Kirche Maria am Wege.

Von Italien besetzt

Zum Ende des Ersten Weltkriegs war ganz Südtirol, das bis dahin zu Österreich gehört hatte, von Italien besetzt worden. Als Folge des Friedensvertrags von Saint-Germain, der 1920 in Kraft trat, verlief die Staatsgrenze mitten durch das Pfarrgebiet. Seitdem stellt die Pfarrei Brenner ein kirchenrechtliches Kuriosum dar: Sie umfasst Teile der (österreichischen) Nordtiroler Gemeinde Gries am Brenner, gehört aber zur (italienischen) Südtiroler Diözese Bozen-Brixen. 

Günther Ennemoser, Ortschronist von Gossensaß und ein Kenner der Brenner-Geschichte, meint: „Die Pfarre ist durch ihr grenzüberschreitendes Einzugsgebiet ein europaweites Kuriosum.“ Sie verbindet die Weiler Fennberg, Griesberg und Kerschbaum auf der Nordtiroler Seite mit Talschaften auf italienischer Seite – und damit auch die Menschen vor Ort. Die politische Grenzziehung vermochte es nicht, das Pfarrleben zu stören.

„Historisch gesehen dokumentiert der Brenner seit 1920 die Trennung Tirols“, sagt Franz Kompatscher, Alt-Bürgermeister der Südtiroler Gemeinde Brenner. „Von vielen Tirolern wurde und wird sie als schmerzlich empfunden.“ Nach dem Beitritt Österreichs zur EU und zum Schengenraum habe sich das negative Gefühl der Trennung deutlich gemildert. „Die Flüchtlingskrise hat am Brenner auch schwere Schicksale offenbart und die Grenze wieder sichtbar gemacht.“

Karl Mühlsteiger ist Bürgermeister von Gries am Brenner in Nordtirol. Zu seiner Gemeinde gehört also ein Teil der Pfarrei Brenner. Er verbindet den Alpenpass mit Erinnerungen „an schöne Kindheits­erlebnisse in einer sehr behüteten Umgebung“. Seit der Grenzöffnung im Zuge der europäischen Integra­tion „hat der Brenner für mich die Bedeutung von grenzenloser Freiheit und einer familiären Zusammen­gehörigkeit – einfach wunderschön!“

Keine Kirchensteuer

Seit gut 100 Jahren gehen österreichische Gläubige in Italien zur Messe. Auch ihr Friedhof liegt auf Südtiroler Seite. Anders als in Österreich üblich, zahlen die österreichischen Pfarrangehörigen der Pfarrei Brenner keinen Kirchenbeitrag – die österreichische Version der deutschen Kirchensteuer. Stattdessen leisten sie ihrer Kirchengemeinde ganz traditionell „Holzabgaben“.

„Die Bauernhöfe mussten der Pfarrei Brenner Brennholz für das Widum zustellen“, erläutert Ortspfarrer Corneliu Berea, also für das Pfarrhaus am Brenner. „Da im Widum kein Pfarrer mehr wohnt, haben sie das in letzter Zeit immer mit einer Zahlung erledigt.“

Andreas Raffeiner

26.10.2023 - Ausland , Italien , Österreich