Nachdem die Spendenbüchse gut gefüllt ist, schafft August Hermann Francke Schulbücher an. Dann lässt er die Bettelkinder von den Straßen holen und erteilt ihnen Unterricht. Doch das Experiment misslingt. Die Kinder nehmen die Bücher mit nach Hause – aber nicht, um zu lernen. Sie verkaufen sie. Francke gibt nicht auf und vertraut darauf, das Richtige zu tun. Er kauft neue Bücher und sammelt diese nach dem Unterricht ein. Man schreibt das Jahr 1695, und die Armut in Glaucha, einem Dorf bei Halle, ist immens. August Hermann Francke, der als pietistischer Pfarrer in Glaucha tätig ist, sieht in der Bildung den Schlüssel zur Verbesserung gesellschaftlicher Zustände. Damit steht Francke, der 1663 in Lübeck geboren wurde und 1727 in Halle starb, in seinem Wirken in der Tradition Martin Luthers. Der Pietismus gilt als bedeutendste Geistesströmung in Europa zwischen Reformation und Aufklärung.
Kurfürstliches Privileg
Vor 325 Jahren, im Jahr 1698, konnte Francke die Grundsteinlegung für das sogenannte Waisenhaus in Glaucha feiern. Es war das erste Gebäude einer Schulstadt, die bis heute existiert. Das Waisenhaus beherbergte Schul- und Schlafräume, eine Buchhandlung und eine Apotheke. Am 19. September 1698 erteilte der Kurfürst von Brandenburg Franckes Gründung sein kurfürstliches Privileg. Dies sorgte für eine gewisse Unabhängigkeit, die der Geistliche brauchte, um sein Werk voranzubringen.
Heute, da Glaucha längst in die Großstadt Halle integriert ist, markiert der mächtige Bau mit der repräsentativen Fassade nicht nur den Eingang zu den Franckeschen Stiftungen. Er ist vor allem der Ort, an dem man in den historischen Kontext dieser Schulstadt eintauchen kann. Im Waisenhaus werden zum einen Einblicke in die Geschichte der Stiftungen geboten. Zum anderen wird versucht, die Grundzüge des Pietismus zu illustrieren. Diese Reformbewegung richtete den Fokus auf das Individuum.
Wertekanon nach christlichen Maßstäben
Der Blick für die Bedürfnisse und Entwicklungsmöglichkeiten jedes Einzelnen sollte geschärft werden. Fester Bestandteil der Bildungsbemühungen war die Vermittlung eines Wertekanons nach christlichen Maßstäben. Den Zöglingen aus allen Schichten wurden die später als preußisch-deutsche Tugenden in der Gesellschaft verankerten Werte wie Fleiß fund Pflichtgefühl, Selbstverantwortlichkeit und Sinn für das Gemeinwohl beigebracht.
Die Durchlässigkeit des Schulsystems war ebenso ein Novum wie das breite Bildungsangebot. Es reichte vom Religionsunterricht über Sprachen und Naturwissenschaften bis zu Rhetorik und Kalligrafie, umfasste sogar Technik und Werkunterricht. Das war revolutionär, denn soziale Schranken wurden überwunden.
Dass Anschauung und Erfahrung eine große Rolle spielten – dafür ist die Kunst- und Naturalienkammer das beste Zeugnis. Sie ist das einzige vollständig erhaltene barocke Kuriositätenkabinett in Deutschland. Über 3000 Objekte aus aller Welt sind hier zu Unterrichtszwecken zusammengetragen worden – präparierte Tiere und Pflanzen, Exponate der Alltagskultur und verschiedener Religionen, Kleidung und Waffen, Totenmasken und ein Apothekertisch. Auch Absonderlichkeiten wie ein tätowierter Fisch und ein versteinerter Käse sind zu finden.