Ein Haniya bei Jerusalem

Wo Diakon Philippus den Eunuchen taufte

In der Apostelgeschichte erscheint sie als Ort einer zukunftsweisenden Taufe. Heute ist sie ein Politikum: Die Philip­pusquelle liegt auf der Grenze zwischen israelischem und palästinensischem Gebiet. Durch den Bau von Israels Sperrmauer sind palästinensische Bauern von ihrer Wasserversorgung abgeschnitten.

Auf israelischer Seite der Mauer gelegen, ist die Quelle mitsamt dem dort in byzantinischer Zeit errichteten Kirchenkomplex heute Teil des Nationalparks Judäische Berge. Die Quelle befindet sich südwestlich des Eingangs zum Rephaim-Tal, das in der Bibel als Schauplatz einer Schlacht zwischen David und den Philistern erwähnt wird (2 Sam 5,17–22). Auf Arabisch ist die Quelle als „Ein Haniya“ bekannt. Sie entspringt aus zwei Höhlen. 

Die Quelle liegt entlang der sogenannten Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie von 1949, auf dem Land des palästinensischen Dorfes al-Walaja und wurde über Genera­tionen zur Trinkwasserversorgung und zur Bewässerung der Felder, als Ort der Erholung und als Tränke für Schafe genutzt. Jahrzehntelang diente die Quelle sowohl israelischen als auch palästinensischen Besuchern – bis 2010.

Sperrmauer trennt

Dann stellte Israel seine Sperrmauer neben al-Walaja fertig und trennte das palästinensische Dorf von der Quelle und rund 250 Hektar seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche. Trotzdem konnten die Bewohner von al-Walaja die Barrie­re anfangs umgehen und das Gebiet mit dem Auto oder zu Fuß erreichen. Mittlerweile macht aber ein neuer Kontrollpunkt der Armee den Palästinensern den Zugang zu ihrer Quelle unmöglich.

Über Jahrhunderte kamen christliche Pilger an den Ort, um sich an die Episode aus der Apostelgeschichte (Apg 8,26–39) zu erinnern, in der Philippus den Kämmerer der äthiopischen Königin Kandake taufte, der traditionell als Eunuch betrachtet wird. Philippus gehörte zu den sieben Diakonen der Urkirche. In der frühchristlichen Gemeinde wurden sie für die Betreuung der Armen ausgewählt. 

Von einem Engel geleitet, befand er sich auf der Straße, die von Jerusalem nach Gaza führte. Nun sah er den Diener der äthiopischen Königin nach einem Besuch in Jerusalem in seinem Wagen sitzend. Er hatte sich von Äthiopien aus auf den Weg nach Jerusalem gemacht. Er wollte Gott finden. Aber er wurde bitter enttäuscht. In Jerusalem durfte er den Tempel nicht betreten, denn als Eunuch galt er als unrein. Nur ein Blick auf den Vorhof der Heiden durfte er wagen. Mehr nicht. 

Aber der Eunuch ließ sich nicht entmutigen. Er kaufte sich eine kostbare Schriftrolle: das Buch des Propheten Jesaja. Er begann zu lesen, verstand aber den Inhalt nicht. Der Heimweg wurde lang und heiß. Da tauchte auf einmal Philippus auf. Er stand einfach dort, wie einer, der per Anhalter weiterkommen möchte. „Kann ich dir helfen?“, fragt er. „Ja! Bitte, hilf mir. Ich verstehe das alles nicht“, lautete die Antwort. Kurzerhand stieg Philippus zu dem fremden Mann in den Wagen und begann von Jesaja zu erzählen.

Ergriffen von den Worten

Der Äthiopier war ergriffen von den Worten. Plötzlich verstand er, dass Gott ihn gefunden hatte. „Da ist Wasser, was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?“, fragte er. „Nichts“, sagte Philippus und taufte ihn. Nichts hinderte den Eunuch, dass er dazugehörte: zum Gott des Jesaja, zum Gott des Philippus, zum dreieinigen Gott. Der Kämmerer blühte auf. An der staubigen Straße öffnete sich für ihn eine neue Welt. Daraufhin zog er fröhlich weiter Richtung Heimat. 

Der Kirchenvater Irenäus von Lyon bezeichnete jenen äthiopischen Eunuchen um 135 als einen Gottesfürchtigen, einen dem Judentum Nahestehenden – und als Ersten, der das Christentum nach Äthio­pien brachte. So wurde die Taufe des Eunuchen zu einem Schlüsselereignis in der Verbreitung des Evangeliums unter den Nicht-
juden und ein häufiges Motiv in der christlichen Kunst.

Zwei Elemente der heutigen Quelle bei al-Walaja passen in die Beschreibung des Schauplatzes dieser Geschichte. Der Ort liegt an der alten römischen Straße von Jerusalem nach Gaza (Apg 8,26) und verfügt über eine Quelle, die in ein Becken fließt. Dort konnte Philip­pus den Äthiopier untertauchen (Apg 8,38). Auf der Ostseite des Beckens ist eine Reihe von Säulenbasen sichtbar. Sie sind ein Hinweis darauf, dass das Bassin für religiöse Zeremonien genutzt wurde. 

Wasser für Feiertagsmatza

Die israelische Natur- und Parkbehörde hält den Wasserstand in dem Becken so niedrig, dass Kinder darin plantschen und es durchwaten können. Körperlich fitte Besucher können zwischen der Quelle und dem Becken etwa neun Meter durch den unterirdischen Tunnel kriechen. Vor Pessach, dem jüdischen Osterfest, schöpfen manche Leute Wasser aus dem Teich, um die besondere Feiertagsmatza aus ungesäuertem Brot zuzubereiten.

Ein Haniya ist ein Ort von großer historischer Bedeutung. Auf dem Gelände befinden sich mehrere antike Gebäude, von denen einige noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Gegend rund zehn Kilometer südwestlich der Altstadt von Jerusalem wurde erstmals zur Zeit des ersten jüdischen Tempels besiedelt. Möglicherweise galt sie als ein angenehmer Zwischenstopp für Juden, die während der Feiertage in die Heilige Stadt reisten. 

Die Stätte erreichte den Höhepunkt ihrer Bedeutung in der Zeit zwischen dem vierten und sechsten nachchristlichen Jahrhundert. Das belegen Münzen, Ton- und Glasgefäße, Dachziegel und bunte Mosaiksteinchen, die man hier fand. Schon damals wurde die Quelle im Zusammenhang mit der Taufe des äthiopischen Eunuchen verehrt. Rekonstruierte Aquädukte leiten das Wasser zu einem alten Bewässerungsbecken, das heute gerne zum Schwimmen genutzt wird.

„Umschlossene Quelle“

Die byzantinische Kirche umgibt einen Brunnen und ein Becken aus der Römerzeit, die von der Haniya-Quelle gespeist werden. Antike Wasserkanäle, die noch vorhanden sind, wurden einst in den Berghang geschlagen. Das Ensemble von Ein Haniya bietet so ein Beispiel für eine „umschlossene Quelle“ wie im Liebesgedicht des Hohelieds 4,12: „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Born, ein versiegelter Quell.“

Die für das Gelände zuständige israelische Natur- und Parkbehörde hat die alten Terrassen restauriert und mit Obstbäumen bepflanzt. Auf dem Weg entdeckt man kleine Olivenbäume und Gruppen wilder Sonnenblumen. Bei archäologischen Ausgrabungen wurde ein Nymphaeum, ein Quellheiligtum der Römer, freigelegt. In der Antike glaubte man, dass Nymphen, deren Körper halb göttlich und halb menschlich weiblich waren, in der Nähe von Quellen lebten. Solche Stätten galten als heilig. 

Das Wasser des großen oberen Beckens floss durch ein Netz von Kanälen zu einer halbkreisförmigen Mauer. In deren Mitte befand sich eine Nische, in der eine Statue stand. Oben auf jeder Seite der Fassade des Nymphae­ums befindet sich ein Relief in Form einer korinthischen Säule. Das Quellwasser fließt unter der Nische durch eine Öffnung in der Wand und gelangt zum unteren Becken. Während der byzanti-
nischen Zeit wurde das Nymphaeum in den Kirchen-Komplex einbezogen. 

Die Haniya-Quelle ist seit dem vierten Jahrhundert ein Wallfahrtsort – vor allem für Mitglieder der armenischen und äthiopischen Kirche. Nicht nur Christen, sondern auch Muslime und Juden respektieren die Heiligkeit der Stätte. Im November 2010, als der Winterregen ausblieb, versammelten sich Vertreter der drei Glaubensrichtungen an der Haniya-Quelle zu einem gemeinsamen Gebet um Regen.

Karl-Heinz Fleckenstein

29.08.2023 - Archäologie , Christen , Nahost