Nimm doch mal das Kind in den Arm und lass dich damit fotografieren!“, sagt Schwester Maria zu Pfarrer Franz Kraft. Sekunden später legt ihm die Ordensfrau ein Baby in den Arm. „Wir haben es vor einer Woche auf der Straße aufgelesen“, sagt die aus Sardinien stammende Vinzentinerin. Der Priester aus der Diözese Würzburg, der das Waisenhaus mit einer deutschen Pilgergruppe besucht, versichert: „Diesen Moment werde ich nie vergessen.“
Pfarrer Kraft ist aufgewühlt. „Wie alt wird das Kind sein? Drei, vier Wochen?“, fragt er. Seine eigene Kindheit steht ihm vor Augen. „Ausgesetzt, ohne Vater, ohne Mutter. Wie geht so etwas? Ich kann es mir nicht vorstellen, sehe aber die Liebe und Herzlichkeit, mit der die Schwester mir das Baby überreicht, mit der die Schwester dieses Kind wie auch die anderen Kinder liebevoll anschaut und wie diese mit einem Lächeln reagieren.“
Leben ermöglichen
Im Waisenhaus „La Crèche“ (die Krippe) in Bethlehem kennt man solche Schicksale seit über 130 Jahren. In Palästina einen Platz zu finden, um Mensch werden zu dürfen – wie schwer das ist, hat schon Jesus erfahren. Mit der „Crèche“ gibt es seit 1885 eine Herberge, in der Vinzentinerinnen genau das ermöglichen wollen. Derzeit leben etwa 50 Kinder dauerhaft in der Krippe. Genauso viele besuchen den Kindergarten. Sie entstammen armen oder getrennt lebenden Familien.
Die dauerhaft untergebrachten Kleinen haben Dramatisches und in vielen Fällen Traumatisches erlebt: Sie sind Vollwaisen, durch eine Vergewaltigung entstanden, im Müll ausgesetzt, von einer Stiefmutter verstoßen oder von einer verzweifelten jungen Mutter am Straßenrand liegengelassen worden. Jedes Kind, ob gesund oder krank, begabt oder behindert, ob von muslimischen oder christlichen Eltern, erhält in der „Crèche“ einen Platz – um Mensch werden zu dürfen und zu sein.
Meist sind die Mütter unverheiratet. Im Heiligen Land gilt das auch heute noch als Schande. Die Mütter sehen sich gezwungen, nach der Entbindung und oft, ohne ihr Kind gesehen zu haben, eine Verzichtserklärung zu unterschreiben. Mit ihr geben sie ihr Baby klammheimlich ab. Mitunter kommen die Schwangeren – manchmal mit Hilfe der Polizei – schon zu Beginn der Schwangerschaft zum Malteserkrankenhaus Heilige Familie, das neben der „Crèche“ liegt. Ohne Wissen ihrer Familie entbinden sie dort.
Schreckliches zugetragen
Anders als bei solchen Kindern kann man über die echten Findelkinder nichts in Erfahrung bringen. Selten erklärt ein Brief die Beweggründe für die Aussetzung. In einigen Fällen ist den Schwestern jedoch Schreckliches zugetragen worden: zum Beispiel, dass ein Kind der Inzestverbindung zwischen Vater und Tochter entstammt. Wahrscheinlich kehren die ledigen Mütter nach der Entbindung bangen Herzens zu ihren Familien zurück.