Jom-Kippur-Krieg Vor 50 Jahren

Ein tiefer Einschnitt für Israel

Im Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 gingen Ägypten, Syrien und andere arabische Staaten militärisch gegen Israel vor. Der israelische Historiker Moshe Zimmermann analysiert im Interview Ursachen, Verlauf und Auswirkung des knapp dreiwöchigen Blutvergießens. Der heute 79-jährige Professor war damals Doktorand in Hamburg.

Professor Zimmermann, was waren die hauptsächlichen Ursachen des Jom-Kippur-Kriegs?

Die Hauptursachen waren die Niederlage der Araber im Sechstagekrieg und der Wunsch Ägyptens und Syriens, verlorene Gebiete zurückzugewinnen. Israels Hybris nach dem Sieg im Krieg 1967 vereitelte jeden Versuch, einer möglichen Eskalation zuvorzukommen.

Können Sie die wichtigsten Ereignisse während des Konflikts hervorheben?

Kurz gefasst: In den ersten drei Tagen erlitt Israel hohe Verluste – Gebiete, Menschenleben und Material – auf der Ostseite des Suezkanals und auf den Golanhöhen. Dann hat sich der Spieß umgedreht, und zwölf Tage nach Beginn des Kriegs konnte Israel nicht nur Gebiete zurückgewinnen, sondern auch Gebiete westlich des Suezkanals erobern. Ohne eine massive Waffenlieferung seitens der USA wäre dieser Wandel von einer Niederlage zum Sieg unmöglich gewesen.

Wie hat der Jom-Kippur-Krieg die politische Landschaft im Nahen Osten verändert, und welche Auswirkungen hatte er auf die Beziehungen der beteiligten Länder?

Ägypten und Syrien haben ihr eigentliches Ziel erreicht: Bewegung in die Nahostpolitik zu bringen. Sowohl die Verhandlungen ab 1977 als auch der Frieden mit Ägypten 1979 waren eine revolutionäre Entwicklung im Nahostkonflikt, die vor dem Jom-Kippur-Krieg unvorstellbar war.

Welche Lehren wurden aus diesem Krieg gezogen?

Für Israel bleibt bis heute das Überraschtsein am 5. Oktober 1973 das große Trauma. Die Lehre, die man gezogen hat, war vor allem: nie wieder überrascht sein, besser mit Informationen der Geheimdienste umgehen und nicht an „Konzeptionen“ festhalten. Ägypten und Jordanien haben ihrerseits die Lehre gezogen, dass einerseits Israel als Staat nicht mehr auszulöschen ist und anderseits, dass für sie eine Abmachung mit Israel Vorteile bringen kann. Die Syrer blieben unbelehrbar.

Welche Auswirkungen hatte der Waffengang auf die israelische Gesellschaft, und wie hat er das nationale Selbstverständnis geprägt?

Die israelische Gesellschaft stand sowohl wegen der Überraschung als auch aufgrund der hohen Verluste – rund 3000 Tote – unter Schock. Es dauerte aber mehr als drei Jahre, bis die seit 1948 regierende Arbeiterpartei abgelöst wurde. Seit 1977 regieren bis auf ganz kurze Pausen die Nationalisten und die religiös-nationalistischen Parteien das Land, was einen Frieden mit den Palästinensern in weite Ferne rücken lässt.

Gab es während der Kämpfe diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Kriegs?

Ja, selbstverständlich. Die USA und die UdSSR bemühten sich um eine Deeskalation der Krise. International konzentrierte sich die internationale Diplomatie auf den Ölboykott der arabischen Staaten, der verheerende Wirkungen auf die globale Wirtschaftslage hatte.

Welche Rolle spielten die Vereinten Nationen?

Die Vereinten Nationen sind eine Plattform, die Verhandlungen auf der internationalen Bühne ermöglicht. Nicht mehr. Das Zeitalter der souveränen Staaten war 1973 und ist auch heute noch nicht vorüber.

Wie wird der Jom-Kippur-Krieg heute in der öffentlichen Wahrnehmung betrachtet?

In der arabischen Geschichtswahrnehmung ist der Jom-Kippur-Krieg der Beweis dafür, dass Israels Unbesiegbarkeit nur ein Mythos ist. In der israelischen Wahrnehmung ist der Krieg ein Argument gegen Kompromissbereitschaft, gegen jede linksgerichtete Regierung und für eine konsequente Siedlungspolitik. Die Siedlerbewegung „Gusch Emunim“ entstand nicht zufällig erst am 30. Januar 1974.

Hat die Auseinandersetzung sowohl die öffentliche Meinung in Israel und in der arabischen Welt als auch das Vertrauen in die politische Elite beider Seiten beeinflusst?

In Israel führte der Krieg zum Vertrauensverlust in die alten, sozialdemokratischen und liberalen Eliten. Für einen Staat, der sich als Demokratie versteht, bedeutet das einen tiefen Einschnitt.

Was dachten Sie am 26. Oktober 1973, als der Krieg endete?

Am 26. Oktober 1973 konnte ich aufatmen: Meinem Bruder, der an den Kämpfen teilgenommen hat, ist nichts passiert. Er blieb als Soldat noch einige Monate auf ägyptischem Boden. Auf meiner Agenda stand nur eins: mich dafür einzusetzen, dass es nicht zum nächsten Krieg kommt. 

Kann der Mensch aus der Geschichte lernen?

Leider behaupten alle, die den Begriff Geschichte kennen, dass sie aus der Geschichte gelernt haben. Nur kann jeder nach seiner Machart die Lehre aus der Geschichte ziehen. Jemanden davon zu überzeugen, dass er die falsche Lehre aus der Geschichte gezogen hat, ist schwieriger als einen HSV-Fan in einen St.-Pauli-Fan zu verwandeln.

Interview: Andreas Raffeiner

05.10.2023 - Israel , Krieg , Palästina