Auf Spaniens Jakobsweg von den Pyrenäen bis zum Sehnsuchtsziel Santiago de Compostela reihen sich die Höhepunkte wie an einer 750 Kilometer langen Perlenschnur auf. Das Salz in der Pilgersuppe sind kuriose Stationen. Wo sonst findet man einen kostenlosen Weinbrunnen oder einen Hühnerstall in einer Kathedrale? Eine schaurig-schöne Entdeckungsreise in zehn Stopps von Ost nach West – genau passend zum 25. Juli, dem Jakobustag: An diesem weltweit begangenen Ehrentag wurden 816 die Gebeine des Jakobus nach Santiago de Compostela überführt.
Den Auftakt der Kuriositäten macht das einstige Augustinerkloster von Roncesvalles, kurz hinter dem Pyrenäenpass Ibañeta. Als Teleskopstöcke und Markenwanderschuhe noch nicht erfunden waren und es an Infrastruktur und ärztlicher Versorgung mangelte, überstanden viele Pilger die Beschwernis der Bergüberquerung nicht. In den Tiefen der Klosterkapelle Sancti Spiritus begrub man die Verstorbenen anonym. Eine Luke gibt den schaurigen Blick auf Knochenreste frei.
Über Pamplona führt der Weg in den Ort Puente la Reina, der mit der Kreuzkirche empfängt. Der Gekreuzigte im Innern – hat man ihn nicht so oder ähnlich schon oft gesehen? Mag sein, aber nicht mit dem Hintergrund dieser Geschichte: Das Holzschnitzwerk stammt aus dem Rheinland und gelangte im 14. Jahrhundert auf den Schultern einer Pilgergruppe nach Puente la Reina, auf einem rund 1500 Kilometer langen Gewaltmarsch.
Die Strapazen waren unvorstellbar. Überall dürfte der Zug Aufsehen erregt haben. Vermutlich waren die Träger in Puente la Reina zu erschöpft, um mit dem Bildnis weiterzuziehen. Der rheinische Christus, gerichtet auf einem natürlich wirkenden Baumstamm in Y-Form, blieb hier. Seinen Ehrenplatz vor einer blau ausgemalten Apsis bekam er in der ursprünglich romanischen Marienkirche, die man dem Gekreuzigten zu Ehren um ein gleichartiges Schiff im Stil der Gotik erweiterte. Zudem änderte man den Namen der Kirche.
Kann das sein? Oder lässt der Jakobsweg eine Fata Morgana wie in der Wüste aufscheinen: Man dreht einen Hahn auf – und heraus kommt Rotwein zum Nulltarif. Nein, keine Fata Morgana und kein biblisches Mirakel! Man erlebt das hinter Estella kurz vor dem alten Benediktinerkloster Irache tatsächlich. Es handelt sich um einen geschickten Werbeschachzug der Weinkellerei Irache, die in direkter Nachbarschaft an den Jakobsweg stößt. In einem Außenbereich riefen die Macher 1991 den „Fuente del Vino“ (Weinbrunnen) ins Leben.
Fehlt Wein, gibt’s Wasser
Seither ist der Tropfen in aller Munde und hat den Bekanntheitsgrad der Kellerei weltweit gesteigert. Pro Tag stehen etwa 100 Liter zur Verfügung. Bleibt der Hahn länger offen, weil jemand größere Mengen abzapfen will, greift ein Schließmechanismus. Zum Trost, wenn das Tagesdepot an Wein einmal aufgebraucht ist, fließt aus einem zweiten Hahn Wasser, um den Durst auf diese Weise zu stillen. So können die Pilger gestärkt in die angrenzende Weinregion La Rioja nach Santo Domingo de la Calzada weiterziehen.
Auch dort kommt man aus dem Staunen nicht heraus: In der Kathedrale gibt es einen verglasten Hühnerstall mit lebendigem Federvieh. Die Erklärung liefert eine mittelalterliche Sage: Eine deutsche Pilgerfamilie mit Mutter, Vater und halbwüchsigem Sohn nahm in Santo Domingo de la Calzada Unterkunft im Gasthof. Die dort tätige Magd machte dem Jungen ein fleischliches Angebot. Doch der blieb standhaft.
Aus Rache versteckte die verschmähte Magd einen Silberbecher in seinem Gepäck. Er wurde vom Landrichter des Diebstahls angeklagt und gehängt. Die Eltern wollten am Henkerspfahl Abschied nehmen und stellten fest, dass ihr Sohn noch lebte. Sie stürzten zum Haus des Richters, der an einer opulenten Tafel Platz genommen hatte. Vor ihm dampften ein gebratener Hahn und eine gebratene Henne.
„Euer nichtsnutziger Spross ist so lebendig wie das Federvieh“, spottete er. Da wuchsen den Tieren Flügel. Der Hahn krähte. Das Huhn gackerte. Sie flogen davon. Die Unschuld des Jungen war bewiesen. Ein weißer Hahn und eine weiße Henne bewahren die Erinnerung an das Mirakel.