Kommentar zur Wahl in der Türkei

Seyran Ateş: Erdoğan – der ewige Diktator

Viele witterten in der Türkei schon einen Regierungswechsel. Doch die Stichwahl gewann Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan. Seyran Ateş, Rechtsanwältin, Menschenrechtsaktivistin sowie Mitbegründerin der liberalen Ibn Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, kommentiert.

1997 zitierte Recep Tayyip Erdoğan nach einem Gedicht von Ziya Gökalp folgende Zeilen: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Moscheekuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Daraufhin wurde Erdoğan wegen religiöser Volksverhetzung zu zehn Monaten Haft verurteilt, von denen er vier absitzen musste. Das machte ihn wütend, denn für ihn war das Zitat auf den Punkt gebracht seine Lebens­realität, sein Leitbild und sein größter Wunsch für „seine“ Türkei. Erdoğan war schon immer ein Islamist – und ebenso durchgehend ein ehrlicher Mann. Er hat stets angekündigt, was er als Nächstes tun wird, um die Demokratie abzuschaffen. Schritt für Schritt hat er dafür nur 20 Jahre gebraucht. 

Sein Kindheitstraum war es, Profi-Fußballer zu werden. Doch sein Vater hatte ihm verboten, auch nur in die Nähe eines Fußballs zu kommen. Die Enttäuschung darüber, von seinem Vater nicht gefördert zu werden, prägte ihn. Erdoğan scheint seine ganze Wut über die Religion und politische Macht zu kompensieren. 

Die Wirtschaft in der Türkei liegt am Boden. Das ganze Land ist regelrecht zerstückelt und zerrieben zwischen Fronten. Erdoğan hat inzwischen so viel Macht in allen Bereichen der Politik, Justiz und den Medien, dass die Opposition keinerlei Chance hatte. Ein Beispiel: Eine Analyse ergab, dass Erdoğan zwischen dem 1. April und dem 3. Mai dieses Jahres 48 Stunden, 45 Minuten und 53 Sekunden im türkischen Staatsfernsehen zu sehen war – sein Gegner Kemal Kiliçdaroğlu dagegen nur 32 Minuten und 23 Sekunden.

Erdoğans Motto lautet, angelehnt an das des einstigen Römischen Imperiums: Spalte und herrsche! Er sagte den Wählern sinngemäß: Ihr müsst euch entscheiden zwischen denen, die nach der gewonnenen Wahl mit Champagner anstoßen, und denen, die sich zum Dankesgebet verneigen. Dennoch gilt auch: Jedes Volk bekommt die Regierung, die es verdient!

07.06.2023 - Kommentar , Türkei , Wahl