Dominikanermönch Gaspar de Carvajal wurde lange Zeit einer allzu lebhaften Fantasie verdächtigt: Dass er im Tagebuch der Orellana-Expedition der 1540er Jahre von Städten im Dschungel und weiblichen Kriegern schrieb, die ihn an die sagenhaften antiken Amazonen erinnerten, klang, als sei es an den Haaren herbeigezogen. Neue Erkenntnisse rehabilitieren Carvajal.
„Diese Frauen sind sehr groß und hellhäutig. Ihre langen Haare haben sie um den Kopf geflochten. Sie sind sehr muskulös und bis auf die Scham splitternackt. Mit ihren Pfeilen und Bogen kämpft jede wie zehn Indios.“ So beschreibt Carvajal im Expeditionstagebuch unter dem 24. Juni 1542 die Kriegerinnen, welche die Mannschaft um ihn angriffen. Es geschah an der Einmündung des Rio Nhamundá in den Amazonas.
Dass sie mit Speeren, Pfeil und Bogen angegriffen wurden – daran hatten sich die Konquistadoren beinahe schon gewöhnt. Aber von Frauen? Die Spanier um Francisco de Orellana drifteten als versprengte Vorhut einer Expedition Gonzalo Pizarros von Quito in Ecuador herkommend auf zwei Schiffen flussabwärts: seit Monaten – und der Fluss nahm kein Ende.
Lange Zeit wurde das vom Mönch Carvajal Überlieferte angezweifelt. Es könnte das Produkt der Fantasie aus feucht-heißen Fieberträumen ausgehungerter Männer auf einem Trip ins Nirgendwo sein, wurde gemutmaßt. Aber Fray Gaspar war ein knochentrockener Chronist, der jeden seiner Einträge ins Bordbuch mit „Im Namen Gottes Unseres Herrn“ begann.
Suche nach „El Dorado“
Der spanische König und dessen Indienrat hatten 1540 dem Konquistador Gonzalo Pizarro eine Expedition in das unerforschte Innere Südamerikas genehmigt. Ziel war die Suche nach den legendären Zimtwäldern. Zimt war damals sehr begehrt und daher entsprechend kostbar. Die Indios im Zentrum des Kontinents, ging die Sage, seien reich an Gold. Pizarro selbst erhoffte sich, das sagenumwobene Goldland „El Dorado“ zu entdecken.
Von Quito startete ein riesiger Tross nach Osten. Bald schon war ein Fortkommen in dem dichten Dschungel nur noch entlang der Flüsse möglich. Im Oktober 1541 erreichte die Expedition den Rio Napo. Da dieser zu tief für eine Überquerung war, musste die Mannschaft ein Schiff bauen. Francisco de Orellana leitete den Bau, da Pizarro während der Reise schwer an Fieber erkrankt war. Dem Zimmermann Juan de Alcántara gelang es, aus Hufeisen und den Steigbügeln der verendeten Pferde Nägel zu schmieden. Am 10. Dezember 1541 war die „San Pedro“ fertiggestellt.
Laut Chronik brach die Voraus-Expedition unter dem Kommando von Orellana am 25. Dezember auf. Die 57 – nach anderen Quellen 51 – Mann erhielten den Auftrag, Lebensmittel für ihre zurückbleibenden Kameraden zu beschaffen. Unter den Männern auf dem Schiff war Pater Carvajal. Der Rest verblieb bei Pizarro, dessen älterer Halbbruder Francisco knapp zehn Jahre zuvor das Inka-Reich in den Anden erobert hatte.
Am Neujahrstag des Jahres 1542 erreichte das Schiff der Kundschafter den Amazonas. Angesichts der reißenden Strömung in den Stromschnellen wurde bald klar, dass eine Rückkehr zu Pizarros Lager praktisch unmöglich war. Die Mannschaft beschloss, ein zweites, kleineres Schiff namens „Victoria“ zu bauen. Nach unsäglichen Strapazen, Schwärmen von Stechmücken, tropischen Regengüssen und Überschwemmungen, Hunger und Kämpfen mit Eingeborenen erreichten die beiden Boote nach 240 Tagen am 11. September 1542 den Atlantik.
Capitán Orellana reiste weiter nach Trinidad, dann nach Santo Domingo und von dort aus nach Spanien. Vor dem Indienrat musste er sein Vorgehen erklären. Kronprinz Philipp sprach Orellana frei und die Behörden sprachen ihm Ländereien am Amazonas zu. Dorthin kehrte er 1545 zurück. Er und seine Begleiter kamen an, blieben aber alsbald verschollen. Möglicherweise starben sie am „Sumpffieber“, heute als Malaria bekannt.
Mönch Carvajal kehrte in sein Kloster in Peru zurück. Von den spanischen Eroberern seiner Zeit konnte kaum einer lesen oder gar schreiben. Umso bedeutsamer ist das Expeditionstagebuch des Dominikaners, worin er festhielt, was Orellanas Männern auf ihrer gefahrvollen Reise widerfahren sein soll. Jahrhundertelang lag es im Archiv seines Ordens in Lima. Erst 1895 wurde es publiziert.
Gefecht mit Amazonen
Das, was die Überlebenden der Expedition von den Kriegerinnen am Amazonas erzählten, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die dramatischen Schilderungen von dem Gefecht mit den wilden Amazonen im Urwald kam an: Sie war ganz nach dem Geschmack und befriedigte die Amerika-Neugier der Gebildeten in Europa.
Da schien die Ordnung der Geschlechter, wie Europa sie kannte, aus den Fugen geraten: Die Amazonen symbolisierten eine gegensätzliche Welt. Sie waren faszinierendes Ideal und erschreckendes Kuriosum zugleich. Bewunderten Eigenschaften wie Mut, Selbständigkeit, Klugheit und Schönheit standen ihre mangelnde Zivilisiertheit, animalische Wildheit und barbarische Sitten gegenüber.
Dieser Blick auf das andere Geschlecht – von allen Konventionen befreit – wurde von den belesenen Herren der Frühen Neuzeit genüsslich vorgenommen. Der besagte Fluss, an dem die indianischen Kriegerinnen die Spanier angegriffen haben sollen, wurde von ihnen nicht wie vorgesehen nach seinem Entdecker „Rio Orellana“ genannt, sondern eben „Amazonas“.
Was Gaspar de Carvajal in seinem Tagebuch der Expedition sonst noch schilderte – dass er am Fluss prächtige befestigte Städte angetroffen habe, die dicht bevölkert waren, und gut ausgebaute Straßen – blieb vorerst unbekannt. Nach der Publikation des Buchs 350 Jahre später wurde sein Text zerpflückt und großteils als reine Fantasterei abgetan oder als Propaganda kritisiert.
Es habe keine Städte und Straßen am Amazonas gegeben, wurde argumentiert. Die Attacke der Amazonen habe sich die Vorhut ausgedacht, um zu rechtfertigen, dass sie nicht wie vereinbart zur Haupttruppe Gonzalo Pizarros zurückgekehrt war. Die Ethnologin Therese von Bayern (1850 bis 1925) unterstellte dem Spanier gar, er habe sich von „weibisch aufgemachten“ Indio-Kriegern täuschen lassen.
Neue Funde lassen vieles in Carvajals Tagebuch in anderem Licht erscheinen. Seine Schrift wird zum wichtigen Hinweis auf eine verlorene Zivilisation. Die jüngst entdeckten Kulturböden, „Terra Preta“ genannt, zeugen nämlich von einer langen Besiedlung mit einer hohen Bevölkerungsdichte im Amazonas-Gebiet, sagt Anthropologe William Balée von der Tulane University in New Orleans.
Das Amazonasbecken könnte vor der europäischen Eroberung fünf bis zehn Millionen Menschen beherbergt haben. Heute lebt dort gerade noch eine Million Indios. Die Menschen dürften vornehmlich in Flussnähe gelebt haben, was ihnen eine gute Versorgung mit tierischem Eiweiß in Form von Fisch garantierte. Die Basis der Ernährung bildeten aber wohl Feldfrüchte wie Maniok, Mais und Süßkartoffeln. Intensive Landwirtschaft wäre in der Lage gewesen, die erforderlichen Lebensmittel zu produzieren.