Kluge Reime, pfiffige Zeichnungen

Fabelhafte Langohren

Ein vom Krieg gezeichneter Lehrer, für den mit seinem kleinen Sohn die eigene Kindheit wieder lebendig wird. Und ein Illustrator auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Beide sind sich nie begegnet und schaffen doch gemeinsam ein großes Werk für die Kleinen: Vor 100 Jahren erschien der Kinderbuchklassiker „Die Häschenschule“, der über Generationen für einprägsame Ostermotive sorgte.

Vielleicht waren es die glücklichsten Tage des Dichters überhaupt. In lebendigen Worten schildert Albert Sixtus in seinen Memoiren, wie sein damals fünfjähriger Sohn Wolfgang Tante Martl, Mutter und Vater in „die wunderbarsten, aufregendsten Hasenspiele“ verwickelte. „Meine Frau war die Hasenmutter, Wolfgang das Hasenkind, Martl der Hasenlehrer und ich der böse, böse Rotfuchs, der fürchterlich bellen und fauchen konnte. Herrliche Hasengeschichten sind damals erdacht und mimisch dargestellt worden.“ 

Bei hohem Fieber entstanden

Das war im Jahr 1921. Seine Schilderungen lassen nicht ahnen, wie gezeichnet der Lehrer aus dem sächsischen Kirchberg nahe Zwickau da bereits vom Leben war. Drei Jahre zuvor war er im Alter von 26 Jahren – durch Granat­splitter lebensgefährlich verletzt – aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Richtig gesund sollte Albert Sixtus nie wieder werden: „Viele meiner Verse und Geschichten sind bei hohem Fieber entstanden.“

Die Verse zur „Häschenschule“ klingen in den „Hasenspielen“ der kleinen Familie bereits an, die Sixtus nach seiner Rückkehr von der Front in Frankreich in den Mittelpunkt seines Lebens stellte. Doch erst ein Jahr später, so notiert es der Kinder- und Jugendbuchautor in seinen Erinnerungen, schrieb er zu später Abendstunde die ersten Verse der „Häschenschule“ nieder. Es waren Sixtus’ allererste Verse für Kinder. 

„Ich hatte, als das Gedicht um Mitternacht fertig vor mir lag, das Gefühl, das man als Verfasser leider nur so selten hat: Diesmal ist dir wirklich etwas gelungen!“ Doch wie erfolgreich sein „lustiges Bilderbuch“ rund um die Erlebnisse von Hasenhans und Hasengretchen in der Schulbank sein würde, konnte er da nicht ahnen: Allein bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs belief sich die Auflage auf fast 400 000 Exemplare. 

Doch zurück in jenes Frühjahr 1922. Zwei Wochen nach Ostern schickte Sixtus seinen ersten Entwurf der „Häschenschule“ an den „Alfred Hahn’s Verlag“ nach Leipzig. Hier hätte sein Manuskript in der Schublade verschwinden oder als eines unzähliger Kinderbücher erscheinen und wieder in der Versenkung verschwinden können. 

Was der „Häschenschule“ am Ende zu ihrem beeindruckenden Erfolg verhalf, waren nicht nur Sixtus’ Reime, sondern auch die Zeichnungen, für die der Verlag den schon damals renommierten Illustrator Fritz Koch-Gotha gewinnen konnte. Im Jahr 1923 schuf dieser die humorvollen Bilder zu den Versen und 1924, also vor 100 Jahren, konnte die erste Auflage der „Häschenschule“ erscheinen. 

Ungewöhnlicher Stil

Auch für Koch-Gotha war die Arbeit an einem Kinderbuch ein neues Feld, und seinen Zeichnungen ist gleich anzusehen, dass der in Berlin lebende Künstler, der an den Kunstakademien in Leipzig und Karlsruhe studiert hatte, sein Auskommen zuvor auch als Pressezeichner und Karikaturist gefunden hatte. Sein für ein Kinderbuch durchaus ungewöhnlicher Stil dürfte eine der Erklärungen dafür liefern, warum sich die „Häschenschule“ auch beim erwachsenen Publikum bis heute großer Beliebtheit erfreut. 

Vor allem der Figur des Lehrers verlieh Koch-Gotha stark parodistische Züge: sein schlampig aus der Hose hängendes Schnupftuch und sein auf der ersten Bank abgelegter Schmerbauch machen ihn zu einer verschroben-drolligen Gestalt, die in herrlichem Kontrast zu seiner pädagogischen Autorität steht. Sind Blick und Gestik auch streng und zieht er sogar mal die Hasenohren lang, so wirkt dieser alte Lehrer umso sanftmütiger, wenn er die Violine spielt oder seinen Zöglingen die Gartenarbeit lehrt. Wer kennt nicht diesen Paukertyp, nach außen streng und doch mit einem großen Herzen? Kindern dagegen eröffnen die Bilder ein die Fantasie beflügelndes Hasenland. Sie lieben die vermenschlichten Langohren, das Klassenzimmer im Grünen, die Reime und natürlich das Motiv des Osterhasen. 

Trotz oder vielleicht gerade wegen ihres großen Erfolgs erfuhr „Die Häschenschule“ bis heute immer wieder auch vernichtende Kritik. Ein geschmackloser Antropomorphismus, also das Übertragen menschlicher Eigenschaften auf Tiere, wurde ihr attestiert, die Verbreitung überholter Rollenklischees beanstandet, die reaktionäre Pädagogik gescholten, der Rückzug in die Nostalgie belächelt. 

Sicherlich ist „Die Häschenschule“ als Bilderbuch der Weimarer Republik ein Kind ihrer Zeit. Nachdem die Originalzeichnungen und Druckplatten während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurden, zeichnete Fritz Koch-Gotha nach Kriegsende selbst neue Bilder und verzichtete dabei etwa auf den Rohrstock des Lehrers. 

Doch ein Großteil der Kritik schießt doch weit über das Ziel hinaus, handelt es sich bei „Der Häschenschule“ doch keinesfalls um ein Erziehungsbuch. Vielmehr verfolgte Albert Sixtus das Ziel, Kindern in ihrer Kindlichkeit zu begegnen und ihnen entsprechende Welten zur Entfaltung zu erschaffen – inspiriert nicht zuletzt von seinem kleinen Sohn: „Mit ihm erlebte ich meine eigene Kinderzeit aufs Neue.“ 

Dass dem Autor viel Unrecht getan wurde, belegt auch seine Haltung während des Nationalsozialismus. Weil er sich weigerte, den von ihm herausgegebenen „Auerbachs Kinderkalender“ mit NS-Inhalt zu versehen, und aufgrund seiner „liberalen und oft zu menschlichen Ansichten“, wie es in einer Biografie des Albert-Sixtus-Archivs heißt, musste er Überprüfungen und Bespitzelungen ertragen. Die Gestapo nahm den Autor auch kurzzeitig in Haft. Seine literarische Tätigkeit wurde fortan empfindlich eingeschränkt.

Sogar russische Ausgabe

Den Erfolg der „Häschenschule“ konnte das nicht schmälern. Nach der Wiedervereinigung – zuvor konnte das Buch fast 40 Jahre nur in der Bundesrepublik verlegt werden – erlebte der Klassiker steigende Verkaufszahlen, sodass die Auflage inzwischen die Millionengrenze überschritten hat. Auch eine schwedische, zwei englische, eine russische und eine japanische Ausgabe sind erschienen, zudem gibt es den Klassiker in mehreren Mundartübertragungen. 

Im Jahr 2017 kam der Animationsfilm „Die Häschenschule – Jagd nach dem goldenen Ei“ in die Kinos: Anlässlich des 100. Jubiläums brachte der Thienemann-Esslinger Verlag nun die moderne Adaption „Die neue Häschenschule“ heraus und konnte dafür die Komikerin und Schauspielerin Anke Engelke als Autorin gewinnen. Im Untertitel „Wie Fuchs und Hase Freunde wurden“ klingt schon das Ziel an, „alte Rollenbilder ins Wanken zu bringen“ und „die Feindschaft zwischen Hase und Fuchs zu beenden“. Warnt bei Albert Sixtus der Lehrer seine Hasenschüler vor dem bösen alten Rotfuchs, wenn der sich später im Buch auch als zu altersschwach erweist, um noch auf Hasenjagd zu gehen („Ach, ich bin so schwach und matt! Bringt mir doch ein frisches Blatt!“), so sitzt in der Neuinterpretation ein Fuchskind mit im Klassenzimmer, das Möhren als Pausensnack auspackt. 

Ist es also nicht mehr zeitgemäß, Kinder mit den Gefahren und Rea­litäten des Lebens vertraut zu machen? So einfach wollte es sich der Verlag nicht machen. Es sollte auch in der neuen Version eine Gefahr oder einen Konflikt geben, berichtet Autorin Engelke in einem Interview: „Der Schrecken ist jetzt eine große Mähmaschine.“ Das wiederum rief die Landwirte auf den Plan. Und so steht nicht nur der Klassiker selbst, sondern nun auch schon seine Neuinterpretation im Kreuzfeuer der Kritik. Kindern würde hier eine Geschichte vom „guten Veganer“ gegenüber den „bösen Bauern“ erzählt. „Ach Anke, darf ich Dich mal stören? Wer macht denn eigentlich die Möhren? Ich sag es Dir, dann bist Du schlauer: Auch die Möhren macht der Bauer.“ So die Replik des Bayerischen Landwirtschaftlichen Wochenblatts auf Engelkes Version der „Häschenschule“. 

Folgen des Kriegs

Was Albert Sixtus wohl dazu gesagt hätte? Der Autor starb mit 67 Jahren – an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzungen – im Jahr 1960 in Jena. Dort hatte er auch den Untergang des Dritten Reichs erlebt. Doch Genugtuung dürfte er kaum verspürt haben, wenn er auch nach 1945 wieder leichter als Autor arbeiten konnte. Denn der Wahn des Nationalsozialismus kostete ihn das Wertvollste: Sohn Wolfgang, der ihn einst zur „Häschenschule“ inspiriert hatte, kehrte von der Ostfront nie zurück. Bis heute ist unklar, wie und wo er zu Tode kam. 

Kaum auszumalen, was es für Albert Sixtus, der einst beschlossen hatte, „nur noch seiner Familie zu leben, so lange es ihm vergönnt wäre“, bedeutet haben muss, als sich die Ungewissheit des Wartens im Laufe der Jahre immer stärker zur Gewissheit des Schlimmsten wandelte. 

In seinen im Herbst 1956 notierten Zeilen, wie „Die Häschenschule“ entstand, klingt dieser Schicksalsschlag jedoch nicht mit: „Meine Frau erwachte, als ich das Schlafzimmer betrat, und ich Barbar las ihr natürlich sofort das ganze Hasengedicht vor. ,Gut, gut! Fein, fein!‘ sagte sie. ,Das lass mal drucken! Wie wird sich Wolfgang morgen freuen!‘“ 

Wie viel Freude dieses „Hasengedicht“ nicht nur seinem Sohn, sondern unzähligen Kindern über viele Jahre bereitet hat, lässt sich nicht ermessen. In die letzten Verse der „Häschenschule“ würden sicherlich viele von ihnen voll einstimmen: „Wär, ich nicht ein Kindelein, möcht, ich gleich ein Häschen sein!“

Kirsten Zimmerer

26.03.2024 - Historisches , Literatur , Ostern