Neapel und die Amalfiküste

Bilder, Berge, Blutwunder

Neapel sehen und sterben“ – wer kennt nicht diese geflügelten Worte, die gerne im übertragenen Sinne gesagt werden, wenn man an etwas denkt, von dem man begeistert ist. Johann Wolfgang von Goethe soll sie schon verwendet haben. 1787 schrieb er im Tagebuch seiner italienischen Reise: „Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkner Selbstvergessenheit. Mir geht es ebenso, ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch.“ Auch der romantische Landschaftsmaler Carl Blechen, dessen 225. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, reiste nach Neapel. 1829 besuchte der Cottbuser Pompeji, stieg auf den Vesuv, fuhr mit dem Boot nach Capri und erwanderte die malerische Amalfiküste. Laut Kulturwissenschaftler Dieter Richter kann Blechen zu den Entdeckern der pittoresken Reize der Steilküste gezählt werden.

„Mit Licht gezeichnet“

Hier entstanden in einem Mühlental einige seiner Skizzen in Sepia­tusche, die heute in der Akademie der Künste Berlin liegen. „Mit Licht gezeichnet“ – so werden sie von Kunsthistorikern gerühmt. Später, im Berliner Atelier, griff Blechen auf die Skizzenbücher seiner Italienreise zurück und hielt seine Eindrücke in Ölskizzen und Gemälden mit Figuren von Pilgern, Mönchen, Fischern oder tanzenden Italienerinnen fest.

So entsprach es dem Geschmack der Zeit. Denn Blechen musste viele Jahre als freischaffender Maler ausschließlich von seiner Kunst leben, nachdem er eine feste Anstellung als Dekorations- und Kulissenmaler am Königstädtischen Theater in Berlin verloren hatte. Seiner Entlassung vorausgegangen war ein Streit mit der prominenten Primadonna und Hofsängerin Henriette Sontag.  

Dank seiner Italienreise hatte Blechen künstlerisch Erfolg. Seine Werke wurden ausgestellt, von Rezensenten besprochen und von Sammlern gekauft, sogar vom preußischen König. 1831 wurde Blechen Professor an der Kunstakademie – aber eine schwere psychische Krankheit ließ fünf Jahre später seine Schaffenskraft zunehmend erlahmen. Bald musste er Graphitstift, Feder und Pinsel aus der Hand legen. Mit gerade einmal 41 Jahren starb der Künstler in Berlin. 

Vorbild Caspar David Friedrich

Carl Blechen gilt als früh verstorbenes Künstlergenie, das 1840, im selben Jahr wie sein ideelles Vorbild Caspar David Friedrich, aus der Welt schied. Doch: Der eine Generation ältere Friedrich kam in seinem Leben nie aus Deutschland heraus und feierte künstlerische Erfolge, als Blechen noch ein Kind war. Blechen hingegen musste nach Italien und wäre wohl vergessen worden, wenn er von dort nicht wertvolle Anregungen mitgebracht hätte.

Auf dem Weg an den Golf von Neapel liegen Assisi und Rom – beides Orte von Blechens Schaffen. In der Ewigen Stadt hielt der Cottbuser sich mehr als ein halbes Jahr lang in der Gemeinschaft deutscher Künstlerkollegen auf. Mehrere seiner Werke zeigen das Kloster San Francesco in Assisi. Es ist also möglich, den ungefähren Ort zu finden, von wo der Künstler seine Motive zeichnete – wenn auch heute Stromleitungsmasten, ausgebaute Straßen und neue Häuser in der Landschaft ganz andere Akzente setzen. 

Bei Neapel locken in Pompeji die Ausgrabungen der antiken Metropole. Auch auf Blechen muss die im Jahr 79 nach Christus durch den Vulkan zerstörte Stadt Eindruck gemacht haben. Aquarelle und Skizzen sind erhalten. Heute ist Pompeji mit seiner Zuganbindung nach Neapel in die eine Richtung und nach Sorrent in die andere ein guter Ausgangspunkt, um die Umgebung bis an die Amalfiküste zu erkunden. 

In gut 30 Minuten ist man von hier mit der Regionalbahn Circumvesuviana in Sorrent. Dieser Sehnsuchtsort der Nordeuropäer auf einem Kalksteinplateau mit seinen Zitronen und der Altstadt samt Dom lässt sich gut zu Fuß erkunden. In knapp 45 Minuten fährt dieselbe Bahn in die andere Richtung: direkt zum Hauptbahnhof von Neapel, wo man entweder in die U-Bahn umsteigt oder zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten spaziert. 

Durch enge Gassen

Im Museo Archeologico Nazio­nale di Napoli lassen sich viele der geretteten Wandmalereien und Kleinplastiken aus Pompeji und dem nahen Herculaneum bestaunen. Nea­pel lohnt aber auch wegen seiner vielen Kirchen. Um von der einen zur anderen zu gelangen, geht man durch enge Gassen, die oft mit Fahnen, Wimpeln und Porträts der Fußball-Stars des SSC Napoli dekoriert sind. Zu Blechens Zeit freilich war Fußball noch ein Fremdwort. 

Kein Unbekannter war damals schon der Stadtheilige von Neapel: Januarius (272 bis 305), den die Italiener Gennaro nennen. Um das mit ihm verbundene Blutwunder im Dom mitzuerleben, muss man zu bestimmten Zeiten nach Neapel kommen: um das Fest der Übertragung der Januarius-Reliquien Anfang Mai, am 19. September sowie am 16. Dezember. Wenn sich das getrocknete Heiligenblut in den Ampullen verflüssigt, gilt das als gutes Omen für die Stadt. 

Schatzkammer des Glaubens

Auch ohne das Blutwunder lohnt sich ein Besuch der Gennaro-Kapelle mit ihren vielen Silberskulpturen, in denen Reliquien des Januarius, aber auch die anderer Heiliger verwahrt werden. Der Dom ist im Innern eine Schatzkammer des Glaubens und der Kunst, auch wenn er von außen nicht so grandios und pompös wirkt wie andere Gotteshäuser Italiens, etwa in Florenz, Venedig, Pisa oder Rom. 

Mit der zweiten Patronin Neapels, der heiligen Patrizia (664 bis 683), in Kontakt zu kommen, ist etwas schwieriger. Ihre Gebeine befinden sich seit 1844 in der Kirche San Gregorio Armeno. Um diese aber zu sehen, muss man an bestimmten Tagen zur Feier einer Heiligen Messe vor Ort sein. Wer dies nicht versäumen möchte, muss also entweder mehrere Tagen in Neapel verbringen oder seinen Besuch gut planen.

Auch Carl Blechen hat die Gassen und Kirchen Neapels besucht, aber wer seine Motive durchsieht, findet häufiger Ruinen oder wehrhafte Palazzi am Meer – oft mit einem Mönch, der in einer Grotte sitzt. Ist es der Künstler selbst, der hier in der Ferne am Horizont die Umrisse Capris sieht? In seinem viele Jahre später verfassten italienischen Reisebericht erwähnt Blechen auch Museen, die er in Nea­pel besuchte. 

Blick auf den Vesuv

Der Cottbuser wohnte in der Via Sperancella, die ganz in der Nähe der damals noch nicht existierenden Galleria Umberto I. und des berühmten Teatro di San Carlo liegt, welches er wohl auch besuchte. Immer wieder ist er zum Hafen und zu den Promenaden am Meer gegangen, um dort zu flanieren und zu zeichnen. Und immer wieder fiel sein Blick auf den Vesuv, der Neapel überragt, und er verewigte den Vulkan in seinen Werken.  

Will man heute den Berg besteigen und den Krater besuchen, benötigt man eine Eintrittskarte. Sie kostet aktuell zehn Euro für Erwachsene, ist aber nicht vor Ort an einem Kassenhäuschen zu erwerben, sondern nur vorab übers Internet. Wer das gebuchte Zeitfenster verpasst, hört man, kommt an den gestrengen Einlassern partout nicht vorbei. Wie anders war das zu Blechens und Goethes Zeiten! 

Heute kann man oben einen Espresso für 1,70 Euro genießen oder Rotwein von den Hängen der Umgebung, den schon die Reisenden im 19. Jahrhundert lobten. Blechen schrieb: „… wir nahmen uns dort Esel und machten die Tour nach dem Vesuv hinauf. Beim Einsiedler wurde haltgemacht, etwas gegessen und Lacrimae Christi getrunken, der nur dort oben zu haben ist.“

Amalfi-Skizzenbuch

Wer auf den Spuren Carl Blechens in Süditalien unterwegs ist, steuert nicht nur den Vesuv an, sondern auch die malerische Amalfiküste, wo der Cottbuser Künstler Skizzen für sein Amalfi-Skizzenbuch zeichnete. Der Reisende erkennt den Dom von Amalfi wieder, kann einen Blick auf die letzte und älteste Papiermühle nebst Museum erhaschen und Straßen und Wege ablaufen, die der – laut Bildhauer Johann Gottfried Schadow – „unvergleichliche Skizzierer“ damals ging, um seine Motive zu finden. 

Von der Idee, die Amalfitana, die Küstenstraße der 1000 Kurven, auf eigene Faust abzufahren, ist übrigens abzuraten: weil die kleinen Gemeinden zu bestimmten Reisezeiten wie Ostern, Pfingsten oder in den Sommer- und Herbstferien nur ausgewählte Autonummern durchlassen. Und „weil man nirgendwo einen Parkplatz findet“, erzählt ein Camper aus Paderborn. Die kleinen Touristenbusse dagegen haben Sondergenehmigungen.

Fakt ist auch, dass sich die Gegebenheiten seit Blechens Besuch vor fast 200 Jahren verändert haben. Bachläufe wurden überbaut, Häuser abgerissen oder aufgestockt und Straßen asphaltiert. Einzelheiten und Details seiner Gemälde kann man trotz der Veränderungen bei genauem Hinschauen immer noch wiederfinden. Das „Mühlental bei Amalfi“ etwa. Davon gibt es mehrere Versio­nen von Blechens Hand, die heute unter anderem in Berlin und Leipzig ausgestellt sind. 

„Parsifal“-Bühnenbild

Fast noch besser als in Amalfi sind Blechens Motive von Kirchen und Straßen in Ravello wiederzuerkennen. Heute hat der Ort knapp 2500 Einwohner, im elften Jahrhundert war er sogar Bischofssitz. In der Villa Ruffolo fand Richard Wagner Inspiration für ein Bühnenbild seines „Parsifal“ und im Franziska­nerkloster liegen die Gebeine des seligen Bonaventura di Potenza (1651 bis 1711).   

Die Atmosphäre, das Licht und die Luft der Region faszinieren die vielen Touristen, die täglich nach Pompeji, Sorrent oder zu den Inseln Capri und Ischia strömen, genauso wie seinerzeit Goethe oder Blechen. „Neapel ist ein Paradies“, bilanzierte der „Dichterfürst“. Das dürfte erst recht für die Küste von Amalfi gelten, die damals Carl Blechen zu seinen eindrucksvollen Werken in­spirierte. Und die heute zahllose Touristen begeistert.

Rocco Thiede